Kondensat dunkler Geschichte

Das Hörbuch "Cherubim" von Werner Fritsch lässt einen alten Knecht auferstehen

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste und bislang einzige Roman von Werner Fritsch (geboren 1960 in Waldsassen/Oberpfalz) hat eine spannende Entstehungsgeschichte: Er kommt aus der Mündlichkeit und basiert auf Erzählungen des Knechtes Wenzel Heindl. Werner Fritsch hat diese Erzählungen in den 80er Jahren protokolliert und zu einem Roman verdichtet. Was läge daher näher, als im Zeitalter des Hörbuchs den umgekehrten Weg zu beschreiten und den Roman wieder hörbar zu machen?

Die Originalbänder mit Wenzels Stimme mögen verloren sein oder für ein Hörbuch nicht getaugt haben. Jedenfalls hat sich Regisseur Norbert Schaeffer für Helmut Vogel als Sprecher entschieden. Eine gute Wahl: Vogel hat den notwendigen bayrischen Zungenschlag und spricht zugleich klar und artikuliert, so dass er in der ganzen Republik verstanden werden dürfte. Außerdem hat Schaeffer auf sparsame und wohl platzierte Weise Originaltöne eingesetzt, vor allem Aufnahmen der Stimme Hitlers, die Wenzels Lebensweg akustisch grundieren. Andere O-Töne ("Die Wacht am Rhein", Glockengeläut, Aufmärsche) erzählen von Bombenkrieg und Fliegeralarm, Katholizismus und oberpfälzer Heimat-Romantik.

Hitler, ausgesprochen "Hiltler", wird in dieser Hörbuchversion der eigentliche Gegenspieler Wenzels, denn er und seine Politik haben direkten Einfluss auf Wenzels Werdegang. Der Knecht, durch Kinderlähmung verkrüppelt, wird beispielsweise bei Erschließungsmaßnahmen des KZ-Geländes von Flossenbürg eingesetzt; er muss helfen, Schienen für eine Nebenstrecke zu legen, damit Sonderzüge direkt bis zum Endbahnhof Flossenbürg fahren können. Und er hat den Verdacht, dass er am Ende selber mitfahren soll ins Lager, zusammen mit dem "Rumänenbinder", einer zugleich sehr präsenten und sagenhaften Figur seines Lebensberichtes: "Zum Führer seinem Geburtstag haben sie uns eingeladen - in Viehwaggons."

Bei dieser Art schwarzen Humors hat man den Eindruck, dass hier der Autor dem Knecht und Zeitzeugen solche Kalauer souffliert habe, um durch eine spezifische Kombination von Wahn und Witz die Geschichte wieder lebendig zu machen. Nicht selten entsteht aus der Wortklauberei Sprachphilosophie oder eine neue Schöpfungsmythologie, etwa wenn der Knecht aus dem Wort "Brandung" (Meer) das Wort "Feuer" ableitet und dadurch erklären kann, wie die Welt aus dem Wasser entstand.

Wenzel jedenfalls entzieht sich durch Flucht dem Vernichtungstod und geht über die böhmische Grenze: Wo Hitler nicht ist, da ist für Wenzel Ausland, doch wo immer er hinkommt, überall glaubt er, Hitler sei schon da. Also schlägt sich Wenzel hungernd durch die Wälder und will dabei sogar bis nach Afrika gelangt sein.

Wenzel ist ein einfacher Mann, der ungrammatische Sätze spricht und als Dorfdepp nie sicher vor Hänseleien und Schikanen sein kann. Aber beschränkt ist er nicht: Er weiß, dass ihm als "lebensunwertem Leben" gerade im NS-Staat Lebensgefahr droht. Und diese Gefahr sieht er personifiziert in der allgegenwärtigen Gestalt Hitlers.

Der Roman, der die Lebensgeschichte Wenzels in mythisch überhöhter Weise erzählt, musste für die Hörfassung bearbeitet und vor allem gekürzt werden. Dabei wird eine Qualität des Textes deutlich: Die Fülle der Lesarten, die in ihm angelegt sind. Die Erzählung des einfachen Knechts und Tagelöhners Wenzel steckt voller Zauber und gebiert neue Mythen, auch Schöpfungsmythen, und sie ist zugleich ein Kondensat deutscher Geschichte, dunkler Geschichte zumal. Am Ende spricht Wenzel für einen Augenblick selbst: Erstaunlich rhythmisch und lustvoll, glücklich, einen Zuhörer gefunden zu haben, der sich für ein einfaches Schicksal interessiert und der seine Geschichte weiterträgt.

Titelbild

Werner Fritsch: Cherubim. Booklet und 2 CD. Spieldauer 87 Minuten.
Gesprochen von Helmut Vogel.
Der Hörverlag, München 2002.
20 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895849758

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