Mord und Totschlag

Pablo De Santis über die Literaturwissenschaft

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Austausch von Gegenständen im Text oder in ganzen Sätzen ermöglicht Untergrundorganisationen, ihre Proklamationen zu streuen, religiösen Gruppen, Prophezeiungen zu verbreiten, Liebenden, die Spione zu verwirren, Spionen die Liebenden zu verwirren." Sagen Texte immer nur das aus, was der Leser liest? Oder gibt es einen "tieferen Sinn" hinter dem geschriebenen Wort? In seinem Buch "Die Fakultät" konstruiert Pablo De Santis um diese Fragen einen spannenden, mythischen und lesenswerten Kriminalroman, in dessen Mittelpunkt der seltsame Schriftsteller Homero Brocca steht.

Einer der Protagonisten, der junge und "Ich-erzählende" Esteban Miró, tritt zu Beginn des Buches im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude eine Stelle am Institut für Nationale Literatur an. Dass dies der erste Schritt in einem gnadenlosen Kampf um den Schriftsteller Homero Brocco ist, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Verschiedene Gelehrte schwingen sich auf, dem Geheimnis des Homero Brocca auf die Spur zu kommen. Anscheinend lebt er, aber niemand hat bisher ein Buch von ihm in Händen gehalten, weshalb viele der Gelehrten ihn als Mysterium bezeichnen und seine Existenz leugnen. Es werden zwar Manuskripte von ihm gefunden mit leeren Seiten - und auch sonst gibt es vereinzelte Lebenszeichen, aber dies scheint alles eine Inszenierung des Professors des Lehrstuhls für Nationale Literatur, Cond zu sein, um Sinn und Zweck seiner Forschungen begründen zu können. Im Verlauf der Geschichte, die sich überwiegend in den Gewölben, verstaubten Bibliotheken und labyrinthischen Gängen der alten Fakultät für Geisteswissenschaften in Buenos Aires abspielt, wird das Verhältnis zwischen Leben und Literatur, Fiktion und Wirklichkeit immer undurchschaubarer. Das Finale findet dann in eben diesen unheimlichen, dunklen und teilweise schon verfallenen Gemäuern und Bibliotheken der Fakultät statt, bei dem sich Homero Brocca, zu diesem Zeitpunkt bereits dreifacher Mörder, zu erkennen gibt.

Die Gewalt ist hierbei allerdings eher ein Mittel zum Zweck. Vielmehr steht die Fantasie des Lesers im Mittelpunkt. Trotz des Einsatzes seiner Fantasie stellt sich der Leser die Frage, warum die Personen, die sich mit Homero Brocca beschäftigen, ermordet werden und zum Schluss all seine Bücher und Manuskripte zerstört sind. Beim Untergang der Werke im einstürzenden Fakultätsgebäude geht es nicht primär um die Zerstörung des Buches an sich, sondern um die Zerstörung des allerersten Manuskriptes, also des Originals. Denn ist es möglich, dass das geschriebene Wort vom Ursprung wegführt oder nicht mehr so bedeutsam und einzigartig wie das gesprochene ist? Pablo De Santis gibt die Antwort auf seine Weise und überlässt den Rest der Fantasie des Lesers.

Eins ist allerdings sicher: Homero Brocca ist ein genialer Schriftsteller. Er schrieb buchstäblich nur leere Bücher, und erst als Literaturwissenschaftler versuchen, das leere, also nicht vorhandene Werk durch Interpretation zu rekonstruieren, wird der Schriftsteller zum Mörder. So gesehen ist "Die Fakultät" eine Satire auf den heutigen Literaturbetrieb, in dem Kritiker häufig mehr zu wissen vermeinen als die Autoren selbst.

Titelbild

Pablo De Santis: Die Fakultät.
Übersetzt aus dem Spanischen von Claudia Wuttke.
Unionsverlag, Zürich 2002.
224 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 329300296X

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