Stilist ohne Zeitbezug

Ein Alterswerk von Siegfried Lenz

Von Ulrich KargerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Karger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arne ist der einzige Überlebende eines Selbstmorddramas. Der 12-jährige wird von einem Schiffsabwracker aufgenommen, der mit Arnes Vater seit langem befreundet war. Während er, seine Frau und sein ältester Sohn Hans den verstörten Jungen sehr schnell liebgewinnen, bleiben die fast gleichaltrigen Geschwister Lars und Winnie bis zuletzt auf Distanz zu Arne. Arne ist anders, er sieht in seiner Phantasie Dinge, die es gar nicht gibt und ist in der Schule ein sprachbegabter Überflieger, der alsbald eine Klassenstufe überspringt. So gelangt er in die Klasse von Winnie, in die er sich sogleich verliebt hat. Doch Winnie verhilft ihm nicht zur ersehnten Aufnahme in ihre Clique. Am Ende stürzt Arne sich in die Elbe und ward nicht mehr gesehen.

In dem neuesten Roman von Siegfried Lenz rafft der knapp 20-jährige Erzähler Hans die Hinterlassenschaften Arnes zusammen. Sie liefern ihm Assoziation um Assoziation. Seine Sprache erinnert dabei an die Zeiten Storms oder Fontanes, als die Arbeit noch den allgemeinen Sprachgebrauch prägte. Ohne jeden Anglizismus hat das einen wunderbaren Klang und ist von hoher Ausdruckskraft. Doch sind die Mängel der Komposition unübersehbar: "Arnes Nachlaß" ist weder Fisch noch Fleisch, weder Psychogramm noch Jugendbuch. Dabei hätte gerade die Sprachgestalt irritieren müssen, spielt die Geschichte doch am Ende unseres Jahrzehnts. Die archaisch anmutende Rede erweist sich jedoch nur als das verführerischste Moment einer Serie von Anachronismen, die den Leser verärgern. Denn wo gibt es noch Gymnasien, in denen ältere Schüler als "Vorturner" für jüngere agieren? Im Hamburg dieser Tage kann sich das kaum begeben haben. Jener verläßliche "Vorturner" ist natürlich Hans, dessen Altruismus neben seiner Altersweisheit das Niederschmetterndste an diesem Werk ist. Klaglos tritt er die Hälfte seines Dachzimmers an den fünf Jahre jüngeren Arne ab, der bei ihm Trost sucht. Hans ist von solch aseptischer Beschaffenheit, das man ihm das "Unschuldige" der Situation sofort glaubt.

Unberührt von den Medien unserer Zeit, scheint es in diesem dramatisch aufgeladenen Bullerbü bei Hamburg weder Sozialämter noch Therapeuten oder halbwegs psychologisch geschulte Lehrkräfte zu geben - und ihr Fehlen nimmt Lenz so selbstverständlich hin, als wäre sein Roman in der unmittelbaren Nachkriegszeit situiert. In seiner elfenbeintürmernen Weltfremdheit ist dieser "Roman" insgesamt eine Enttäuschung.

Titelbild

Siegfried Lenz: Arnes Nachlaß. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999.
192 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3455042899

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