Trotzige Trauer

Keto von Waberers Erzählung "Schwester"

Von Katalin SzabóRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katalin Szabó

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn wir uns treffen, und wir treffen uns selten, steht dieser böse glitzernde Neid zwischen uns. Eine eisige Wand. Sie mustert mich. Nicht diskret, ganz offen. Sie mustert alles. Meine Kleider. Meine Haare. Meinen Lippenstift. Sie schnüffelt an mir. Sie sieht alles. Was sie sieht, gefällt ihr. Immer. Sie will es auch haben. Alles." Mit Zorn und Trotz, aber auch mit Trauer und Hilflosigkeit, blickt die Ich-Erzählerin in Keto von Waberers autobiographisch geprägter Erzählung "Schwester" auf das Leben mit ihrer älteren Schwester zurück. Wie konnte die einzige, inzwischen verstorbene, Schwester für sie eine solche Bedrohung werden?

Recht unbeschwert beginnt das gemeinsame Heranwachsen der Schwestern, sieht man vom chronischen Asthma der großen Schwester ab, das der ganzen Familie Rücksicht abverlangt. Als Kinder scheinen sie unzertrennlich. Die ältere Schwester liefert das Vorbild, dem es nachzueifern gilt; gemeinsame Spiele, Verschwörungen gegen die Eltern. Doch die Kleinere neidet die Vorteile des Älterseins, was die andere zu nutzen weiß. Die Große missgönnt der Schwester das unkomplizierte Leben. Sie fügen sich gegenseitig Grausamkeiten zu, die über Geschwisterneckereien weit hinausgehen. Trotzdem bleiben sie die innigsten Freundinnen, die nicht ohne einander können. Und doch scheint das herzliche Verhältnis der Schwestern irgendwann auseinander zu brechen.

Aus Sicht der Ich-Erzählerin kreist das ganze Familienleben um die kranke Schwester. Die Ältere leidet sichtbar unter ihrer Krankheit, durch die sie sich unselbständig und unterlegen fühlt. Immer wieder krank, nimmt sie alle Aufmerksamkeit, vor allem der Mutter, in Anspruch. Diese nutzt die Pflege der Tochter, um sich ihrem Ehemann zu entziehen. Der Vater wird als unzufriedener Familienpatriarch dargestellt, den die jüngere Tochter an Mutters statt bei Laune halten soll. Besonderen Ehrgeiz, den Eltern zu gefallen, entwickelt die Jüngere, da sie meint, von ihrer Mutter unerwünscht und vom Vater als Sohn erwünscht gewesen zu sein. Die Erzählerin entwickelt ihre Strategie, sich bei den Eltern beliebt zu machen und das gegen ihre Schwester zu nutzen. Beide Schwestern reagieren zuerst unbewusst, später gezielt, auf die Familienkonstellation, um so gut wie möglich in ihren 'ökologischen Nischen' zu überleben.

Die Erzählung schildert eine Familie, in der die gegenseitigen Beziehungen ambivalent sind. Dies wird dem Lesenden unvermittelt offenbart, fast zufällig, scheinbar ohne Erzählabsicht. Geschickt wird wie aus der Perspektive des Kindes erzählt, das heranwächst und das eigene Erleben immer mehr versteht. Die Erinnerungen sind kaum zeitlich gegliedert, assoziativ gereiht, mit Vor- und Rückgriffen, die erst allmählich einen roten Faden ergeben, dann aber zum tragischen, hilflosen Finale führen. Das Prozesshafte der Erzählung wird noch verstärkt, indem wir zu Beginn vom Tod der Schwester vor zwei Jahren erfahren; am Ende der Erzählung dagegen sind fünf Jahre vergangen. Die Geschichte wird lange nach dem Abschied von der Schwester erzählt. Trotzdem ist es der Ich-Erzählerin kaum möglich, sich von der eigenen Geschichte zu distanzieren. So überwiegt präsentisches Erzählen, es dominieren kurze Sätze ohne viele Nebensatzgefüge, die unreflektiert scheinen und doch ins Schwarze treffen. In einem eigenartigen Gegensatz zu dieser Distanzlosigkeit stehen die namenlosen Figuren in der Erzählung. Sie sind Mutter, Vater, Ehemann, Ehefrau und eben Schwester. Sie schwanken zwischen Personen und Rollenträgern. Diese Rollen scheinen wie aus einem Lehrbuch für Familientherapie und Familienrekonstruktion kopiert. Der Gedanke, der Therapeut habe an der Erzählung mitgeschrieben, lässt sich nicht verdrängen.

Es ist ein Buch über den Umgang mit Trauer und Schuld. Die Erzählerin macht zunächst das Familienschicksal an der Krankheit ihrer Schwester fest. Doch erkennt sie im Verlauf des eigenen Erzählens, wie problematisch ihr eigener Umgang mit dieser Krankheit war. Sie geht so weit, sich zu fragen, ob sie die Lebensunfähigkeit ihrer Schwester verstärkt, ja produziert hat. Die Frage nach einer Mitschuld am Tod quält sie, ohne von ihrer Schwester heute noch eine wie auch immer geartete Antwort erwarten zu können: "'Du und dein Leben, ihr wart wie ein Dorn in meinem Fleisch', hat sie mir mal geschrieben."

Als letztes lebendes Mitglied der Familie versucht die Erzählerin die Familiengeschichte zu verarbeiten. Niemand, den sie noch verantwortlich machen kann, anklagen kann. Niemand trägt ihre Verantwortung mit oder entlastet sie. Völlig auf sich selbst zurückgeworfen, ist die Bürde viel größer geworden als jemals vor dem Tod der Schwester. Die Auseinandersetzung damit wird zum Ausgangspunkt der Erzählung: "Ich brauche sehr lange, um herauszufinden, daß ich um meine tote Schwester weine."

Seit knapp dreißig Jahren veröffentlicht Keto von Waberer vorwiegend Erzählungen. Nun blickt sie als Sechzigjährige auf eine Familiengeschichte zurück, die ihre sein könnte. Und in dieser autobiographischen Färbung liegt die Schwäche der Erzählung. Doch die Geschichte bleibt gewinnend. Die Ehrlichkeit der Ich-Erzählerin ist ergreifend, die Sprache faszinierend. Eine einnehmende Lektüre, die bleibenden Eindruck hinterlässt.

Titelbild

Keto von Waberer: Schwester.
Berlin Verlag, Berlin 2002.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3827004853

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