Dichterstolz und Kunstverstand
Robert Gernhardts Werkstattbericht in der Zeitschrift "Das Plateau"
Von Viktor Schlawenz
Im November 2001 wurde dem Schriftsteller Robert Gernhardt die Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg angetragen. In der Urkunde heißt es:
"Auf Beschluss der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) / unter Aufsicht von Regierung und Volk des Kantons Freiburg / und unter dem Rektorat von / Paul-Henri Steinauer / Prof. ord. für schweizerisches Privatrecht // verleiht dem hochgelehrten Manne / Robert Gernhardt / aus Reval // - der als Dichter, Zeichner und Maler nicht nur in seiner künstlerischen Praxis / Herausragendes geleistet und ein großes Publikum begeistert hat // - der vielmehr auch als Theoretiker und geistreicher Essayist zur Erforschung / dieser Künste Wesentliches beigetragen hat // - der seit Jahrzehnten brillant-gebildete und nachdenkenswerte Beiträge / zur Theorie der Komik, der Lyrik und der Malerei publiziert hat // - der mit dem Muster seiner literarischen Parodien wesentliche Anregungen / für den akademischen Unterricht und die wissenschaftlichen Lehrbücher an / der Universität Freiburg (Schweiz) und weit darüber hinaus geliefert hat // den akademischen Grad und / die allerhöchsten Ehren, Rechte und Privilegien / eines Doktors Ehrenhalber / und erklärt dies in feierlicher Weise / samt seiner Unterschrift und Besiegelung in den Akten dieser Universität // Marcel Piérart / Prof. ord. für Geschichte des Altertums / und derzeitiger Dekan der Philosophischen Fakultät."
Von seinem Kunstverstand und seiner Gelehrsamkeit hat Gernhardt jetzt erneut Zeugnis abgelegt. Ausgehend von der These, dass immer weniger Leser Gedichte adäquat zu lesen verstünden, spricht Gernhardt von den Regeln seiner Kunst und stellt einige Tricks und Techniken vor. Die meisten seiner Anwendungsbeispiele rekrutieren sich aus seinem eigenen Œuvre bis hin zum aktuellen Gedichtband "Im Glück und anderswo" (2002), so dass sein Essay zugleich Aspekte eines Werkstattberichtes aufweist.
Einer der äußeren Anlässe für diesen Beitrag in der renommierten und aufwändig gestalteten Zeitschrift "Das Plateau", der mit stolzen und eng bedruckten 24 Seiten genau die Hälfte des Heftumfangs ausmacht, war ein Artikel des Lyrikers Harald Hartung: "Über einige Erfahrungen im Schreiben von Lyrik". Hartung plädiert in seinem Beitrag für eine Lyrik mit Regeln - doch "verborgen" müssten sie sein: Solche Regeln sind auch dann wirksam, wenn der Leser sie nicht bemerkt." Die offensichtliche Regel hingegen, wie sie in Lautung und Gleichklang zum Ausdruck kommen kann, schätzt Hartung als "ernster" Lyriker weniger: "Der Schluß liegt nahe, daß die ernsten Töne ohne das Reimspiel auskommen müssen."
Diesen Thesen muss Gernhardt widersprechen: Seine Erfahrungen lehren ihn, dass selbst offensichtliche Regeln kaum mehr erkannt werden und daher vielfach unwirksam bleiben, selbst bei geübten Lesern. Außerdem vertritt er die Auffassung, dass der Reim, als eine der Suggestionstechniken der Lyrik, durchaus mit ernsten Tönen kompatibel sei. Und Hartungs Beispiel aus dessen eigener Werkstatt, welches die Spottlust des Reimes erweisen sollte, überführt Gernhardt als ungeeignet, indem er zeigt, dass dort ganz andere Komikquellen aktiv sind: "fragwürdig alliterierende Antithesen" und inhaltlich belustigende Entwicklungslinien.
Am Beispiel Gottfried Benns weist Gernhardt nach, dass der Reim per se weder witzig noch pathetisch ist: "Was er bewirkt, hängt ganz und gar von der Mitteilung ab, die er in geregelte Bahnen zu lenken hat." Ein Beispiel aus dem eigenen Werk ist "Ein Glück" überschrieben und stammt aus "Lichte Gedichte" (1997). Vom Reim führt ein gerader Weg zur Reimverweigerung, die sich verhalten bis selten in Goethes Alterslyrik findet, dafür aber umso massierter in Gernhardts Œuvre:
"Was ich meine, ist,
Mutter Natur,
ich finde die Frauen,
die sich so gehenlassen, schon mal
per se zum Kotzen."
So rabiat kann gezielte Reimverweigerung sein - ach, wenn man sie doch nur zu lesen verstünde! Bedenklicher jedoch als der zur Komik neigende Reim kann bei metrisch sorgsam strukturierten Gebilden die Gefahr leiernder Mechanik sein. Hier führt der Autor vor, wie man - in Metrum und Strophe ebenso wie in Lautung und Reim - für Abwechslung sorgt. Sein Gedicht "Gemachter Mann", 1987 in "Körper in Cafés" erschienen, operiert mit einem "konstanten Hebungsschwund" von Zeile zu Zeile, so dass die Strophe zur "Kurzatmigkeit" neigt. Man sieht: Alle Ingredenzien der Lyrik lassen sich dosieren, "von der vollen Kanne des Doppelreims bis zur geradezu homöopathischen Verdünnung".
Spannend ist eine neue Bewegungstechnik, die Gernhardt am Beispiel zweier Gedichte aus "Im Glück und anderswo" erläutert: In seinem 'horamobilen' Gedicht "Die Katze" bildet sich um das Wort "Stunde" eine Art Wortfeld, dessen Repräsentanten in verschiedenen Wortarten und Wortformen durch die Verse und Strophen wandern. In "Giuseppes Botschaft" wandert der titelstiftende Giuseppe als Signifikant durch die dargestellte Welt und als Signifikat durch die Welt der Darstellung. Das Gedicht dokumentiert folglich eine doppelte Bewegung: Es zeigt erstens, wie Giuseppe täglich seinen Gang macht und dabei vom Dorf Grimoli hinunter steigt zur Madonna; und es zeigt zweitens, wie das Signifikat "Giuseppe" diese Bewegung mitvollzieht - es 'wandert' von der ersten Stelle der ersten Strophe zunächst in den zweiten Vers der zweiten Strophe und dann in den dritten der dritten, steigt also ebenso wie Giuseppe selbst hinab.
Unterbrochen nur durch einen Kunstbeitrag von Günther Uecker geht es nach wenigen Seiten weiter: In der Schlussgeraden seines Essays wendet sich Gernhardt den Missverständnissen zu, denen seine Lyrik immer wieder ausgesetzt war und zitiert Kritikerstimmen, für die jede "Zweideutigkeit der Dichtung und das Doppelspiel der Dichter Hekuba ist" und die jedes Gedicht als biographische Aussage des Autors werten. Als sichtbare Repräsentanten der "Lyrik-Lesefähigkeit der Bevölkerung" bestätigen sie auf ihre Weise die Ergebnisse der PISA-Studie: nichts gelernt und nichts dazugelernt.