Der Terror im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Der Band "Vor aller Augen" präsentiert Fotodokumente nationalsozialistischer Verfolgung in der Provinz

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Historiker sind in ihrem Umgang mit Fotodokumenten seit der Wehrmachtsausstellung etwas in Verruf geraten, war doch der Einsatz von einigen wenigen fotografischen Zeugnissen, die als Beweisstücke für die von den Ausstellungsmachern vertretenen Thesen fungierten, allzu sorglos geraten. Will man aber dem Fotodokument die einst abgelichtete Wahrheit auch nur annähernd verlässlich entlocken, so muss man die jeweiligen Umstände seiner Entstehung erst zweifelsfrei klären. Ist dies nicht zu gewährleisten, kann man etwa nichts über die gezeigten Bildmotive und die beteiligten Personen, den zeitlichen Rahmen des abgelichteten Geschehens, dessen Ort und den am Auslöser stehenden Fotografen in Erfahrung bringen, dann sollte man die Abzüge und Negative besser in der Schublade lassen. Auch vor scheinbar zeitgenössischen, vermeintlich authentischen Beschriftungen kann nur gewarnt werden. Vor allem vor deren unkritischer Übernahme. Das jüngste Beispiel für diese wissenschaftliche Wurschtigkeit liefert das neue Buch von Daniel Jonah Goldhagen, wo dieser den vorhandenen Anmerkungen vorbehaltlos vertraute und so kurzerhand den Münchner Kardinal Faulhaber durch ein SA-Spalier spazieren lässt - in Wahrheit geht da der päpstliche Nuntius. Als dieser Fehler erkannt wurde, wollte man beim Siedler-Verlag zu allem Überfluss auch noch Hermann Göring auf der Fotografie entdeckt haben, wahrscheinlich um mit dieser zweiten Peinlichkeit vom ersten Fauxpas abzulenken. Eine andere Erklärung fällt einem partout nicht ein.

Viel vom Verhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit lässt sich hingegen aus dem eindrücklichen Fotoband lernen, den die "Stiftung Topographie des Terrors" vorgelegt hat. In einem aufwendigen Projekt suchte man Fotos, die die Geschichte nationalsozialistischen Terrors auf lokaler Ebene zeigen. So wurden fast 1.500 Archive, öffentliche und private Sammlungen, landauf und landab angefragt, um letztlich auch die sich hartnäckig haltende These zu widerlegen, dass es kaum fotografische Überlieferung der braunen Verfolgung gebe. Diese Annahme erwies sich auch deshalb als derart langlebig, weil vielfach zu Unrecht behauptet wurde, es habe im "Dritten Reich" verbreitet ein Fotografierverbot geherrscht, und, sollte es trotzdem zu einer entlarvenden Momentaufnahme gekommen sein, seien diese einschlägigen Zeugnisse angeblich schnell von den Machthabern und deren Handlangern beseitigt worden. Der Rücklauf aus der Provinz bestätigte freilich das Gegenteil: 238 Institutionen stellten über 1.300 Dokumente zur Verfügung, eine Auswahl von nicht weniger als 335 bringt der nun vorliegende Band zur Ansicht. Die Fotografien veranschaulichen den Terror im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Und zwar den Terror vor Ort, wie er in aller Öffentlichkeit ablief, ja zwischen 1933 und 1945 wohl zum Alltag in deutschen Städten und Dörfern gehörte. Bislang, so Philipp Springer, einer der beiden Autoren des Bandes, seien lediglich die "Ikonen der Vernichtung" (Cornelia Brink) ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen. Doch mit dieser verdienstvollen Recherche wurden ganz nebenbei auch neue Bildwelten erschlossen, die die Verfolgung in ihrem Anfangsstadium zeigen.

Diese Bildwelten gliedern sich in sechs thematisch orientierte Kapitel. So versammeln sich unter der Überschrift "Der frühe Terror" Aufnahmen, die die Hatz auf politische Gegner, vorzugsweise Kommunisten und Sozialdemokraten, in der Phase der Machtübernahme vor Augen führt: Delinquenten wie enthobene Bürgermeister oder ehemalige Leiter des Arbeitsamtes werden vor ihrer Verbringung in die ersten SA-Gefängnisse, wo Prügel, Folter und bisweilen auch der Tod warteten, mit diffamierenden Pappschildern behängt, zu Fuß oder, je nach Gusto der Nazischergen, auch rückwärts auf einem Ochsen sitzend, durch die Straßen getrieben. Jene, die gestern noch zu den angesehenen Honoratioren der Städte und Gemeinden gezählt hatten, sieht man wahlweise auch beim Putzen des Reichsbanner-Symbols oder dabei, wie sie gezwungen werden, Mauern von den Resten der SPD-Wahlplakate zu befreien. Dies nimmt die allseits bekannten Szenen aus Wien vom März 1938, als Juden die Trottoirs mit Zahnbürsten zu reinigen hatten, vorweg. Doch nicht nur die mit den Verhaftungen einhergehende Häme tritt hier zutage. Auch der für Hass und Brutalität stehende Vandalismus der Verfolger manifestiert sich auf den Fotografien. Bilder der Verwüstung zeigen die kurz und klein geschlagenen Inneneinrichtungen der Vereinslokale und Geschäftsstellen von Parteien, Gewerkschaften und demokratischen Zeitungen. Wer als Sieger aus den Kämpfen hervorgegangen ist, daran wollten die Nationalsozialisten keinen Zweifel lassen. Vom Schriftzug "Volkshaus" blieben so an den Außenwänden des Gebäudes nur die Buchstaben SS übrig.

Wer traute sich, derlei in den Sucher zu nehmen? Musste nicht mit schlimmsten Sanktionen rechnen, wer beim Fotografieren in den Zeiten des Terrors erwischt wurde? Es ist das Verdienst der Autoren, dass sie solche Probleme stets vorsichtig auszuloten suchen. Das Knipsen konnte in der Tat ein Akt des Widerstands sein. In Straubing etwa fotografierte die Tochter eines der Festgenommenen den Transport des Vaters nach Dachau. Die verdeckte Position, aus der dieses Foto aufgenommen wurde, ist in diesem Fall gleichzusetzen mit dem kritischen Blick des Fotografen. Doch die Willkürherrschaft der SA-Horden auf fotografisches Material zu bannen, kann, muss aber nicht regimekritischen Zwecken dienen. Denn sehr viel häufiger wird der Mensch an der Kamera von der Mehrzahl der Schaulustigen anvisiert, was nur heißen kann, dass das Fotografieren im Einverständnis mit den Machthabern passiert. Denn natürlich waren nicht wenige der Fotografen Anhänger der Gewaltmaßnahmen und die fotografisch festgehaltenen Verhaftungen sozialdemokratischer und kommunistischer Regimegegner wurden von den braunen Knipsern, gleichsam als gerne hergezeigte Trophäen, in hakenkreuzverziertes rotes Leder gebunden.

Überhaupt stammen viele Fotos aus privaten Alben, die Eingang in öffentliche Archive gefunden haben, denn die Funde sind zumeist von Gelegenheits- und Freizeitfotografen, sogenannten "Knipsern" (Timm Starl), gemacht. Die Quantität der Aufnahmen kann nicht verwundern, vergegenwärtigt man sich, dass die Fotografie dank schnell ausgereifter, leicht zu handhabender Technik und kleiner Preise bereits in den 30er Jahren auf dem besten Weg war, ein wichtiger Bestandteil der Massenkultur zu werden. Selbst die bisweilen gute Qualität der Aufnahmen überrascht nicht, denn die nötige Routine beim Fotografieren hatte man etwa anlässlich der schon damals üblichen Dokumentation von Familienfesten und mit Urlaubsschnappschüssen sammeln können. Freilich dürfte es manchen schwerer gefallen sein, angesichts einer brennenden Synagoge den Auslöser zu betätigen als auf einem Kindergeburtstag.

Das zweite Kapitel zeigt denn auch Fotografien, die antijüdische Aktionen und Diskriminierungen aus der Frühzeit des Nationalsozialismus festhalten. Auf einem aus Duisburg stammenden Foto soll dem Rabbiner der Stadt gerade der Bart abgeschnitten werden, was Klaus Hesse und Philipp Springer, den ansonsten peniblen Ausdeutern der Fotografien, aber offensichtlich entgangen ist. Sie haben die Schere oder das Messer in der Hand des Schergen wohl übersehen, zumindest verliert die Bildlegende darüber kein Wort. Dieser Abschnitt gibt Einblick in den antisemitischen Alltag: Man bekommt die Kästen zu Gesicht, in denen Julius Streicher die Nummern des berüchtigten "Stürmer" aushängen ließ, sieht eine Reihe von Verbotstafeln und darf antisemitische Themenwagen in Rosenmontagsumzügen bestaunen. Zu den Bildthemen gehören außerdem Aufnahmen geschändeter jüdischer Friedhöfe, vor allem jedoch steht die Boykottaktion gegen jüdische Betriebe vom 1. April 1933 im Mittelpunkt. Besonders auffallend ist, wie die neuen Machthaber selbst von der Technik Gebrauch machten: Kunden, die sich dem Boykottaufruf nicht fügen, werden abgelichtet. Oft versuchen diese, übrigens ausnahmslos Frauen, sogar noch reflexartig in die Kamera zu grinsen.

Aufnahmen vom Pogrom im November 1938 sind im dritten Kapitel zu finden. Die brennenden Gebäude sind Legion und demoliertes Mobiliar wird Rohstoff für ungezählte Scheiterhaufen. Besonders makaber mutet ein Schild an, das aus einem Haufen von Ziegelsteinen hervorschaut. Darauf heißt es: "Hier stand einmal eine Synagoge." Für den vor seinem Geschäft Glassplitter fegenden Kurt Friedemann, einem jüdischen Ladenbesitzer aus Orsoy, brachten die Scherben kein Glück, sondern waren die Vorboten seiner Vernichtung in Auschwitz.

Eine Moment inne auf dem Weg in Richtung "Endlösung" hält das nächste Kapitel, das sich mit Demütigungen von sogenannten "Rasseschändern" beschäftigt. Die öffentliche Anprangerung von Frauen, die des Geschlechtsverkehrs mit Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern verdächtigt wurden, war von keinem anderen als Heinrich Himmler befohlen worden: Eine Haarschur sollte die betroffenen Frauen stigmatisieren. Nach der häufig vom örtlichen Friseur durchgeführten Aktion wurden die Opfer dieses Rückfalles ins finsterste Mittelalter durch die Straßen getrieben. Die zahllosen Schaulustigen auf dem Ulmer Münsterplatz quittierten das Geschehen unfassbarer Weise mit ausnahmslos strahlenden Gesichtern, im nahen Reutlingen waren gar mehrere Schulklassen zugegen, als die Frauen dies brutale Strafgericht hilflos über sich ergehen lassen mussten.

Das mit über einhundert Fotos weitaus größte Konvolut dokumentiert die Deportationen der jüdischen Bürger aus dem Deutschen Reich. Hier wird auch bei einem nur flüchtigen Blick auf die Aufnahmen schnell deutlich, dass es für die Verschickung der Menschen massenweise Zeugen gegeben hat. Philipp Springer macht deutlich: "Ohne die Fotos von Zuschauern bei einer Deportation in einer kleinen deutschen Gemeinde sind die Bilder von Leichen in Konzentrationslagern unvollständig." Die Zuschauer repräsentieren demnach die Tätergesellschaft, naturgemäß auch jene, die, die Ellbogen auf weiche Kissen gebettet, das Ganze von der Fensterbank aus beobachten. "Sie agieren nicht selbst", bemerkt Klaus Hesse in seinem dem Buch beigefügten Essay "Die Bilder lesen", "begleiten jedoch den Ablauf und geben ihm gleichsam den gesellschaftlichen Rahmen." Nach 1945 wurde diese Zeugenschaft freilich gerne geleugnet. Besonders erschreckend aber sind die vielen schaulustigen Kinder und Jugendlichen, die den Tatort Deportation bevölkern. Nur im Ausnahmefall wurden die Juden also heimlich, still und leise auf ihre "Reise" geschickt. Etwa in der schwäbischen Ortschaft Laupheim, wo acht alte Menschen zu einem weit außerhalb gelegenen Güterbahnhof marschieren mussten, begleitet von einem Polizisten unter Gewehr: Hier fand die Verbringung in den Tod unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wer einwendet, dass zumindest ein Fotograf anwesend gewesen sein muss, hat zwar prinzipiell recht, doch wurden diese Gruppenbilder mit Stern vor der Verladung nicht selten vom Inhaber eines ortsansässigen Fotogeschäftes gemacht, der von der Gestapo beauftragt wurde. Vielleicht versuchen sich auch deshalb manche der Opfer, sobald sie das Objektiv auf sich gerichtet sehen, noch ein Lächeln abzuringen. Womöglich hatte derselbe Fotograf ja schon die eigene Hochzeit im Bild festgehalten. Häufig aber bedienten die Täter selbst die Auslöser. In Würzburg etwa knipsten Kriminalassistenten die Geschehnisse für ein Album der Gestapo, das wohl nach dem Endsieg die ruhmreiche Geschichte von der Ausrottung eines Volkes dokumentieren sollte. Genauso ließ man in Bielefeld und Eisenach die Deportation der jüdischen Einwohner für die noch zu schreibende Stadtchronik fotografieren.

An dieser Stelle muss man sich fragen, wie die Memoriallandschaft im Falle von Hitlers Sieg wohl ausgesehen hätte, insbesondere im Hinblick auf die vernichteten und (fast spurlos) verschwundenen Menschen. Sollten Tat und Opfer wirklich aus dem kollektiven Siegergedächtnis getilgt werden? Dirk Rupnow hat in seiner instruktiven Untersuchung "Täter, Gedächtnis, Opfer" (2000) die Frage gestellt: "Wie fügt ein Staat seine Verbrechen in seine nationale Erinnerungslandschaft ein?" Wären diese Verbrechen wirklich verheimlicht worden? Das zu analysieren drängt sich angesichts so vieler von Tätern bzw. in deren offiziellem Auftrag gefertigten Fotografien auf. Gegen so manche Erinnerungsfotos, die ein potentieller Kläger ja gegen die Täter hätte verwenden können und die von alliierten Gerichten nach dem Krieg auch als Beweismittel verwendet wurden, hatten die Vernichtungsbeauftragten auf deutschem Territorium jedenfalls nichts einzuwenden.

Schnappschüsse von ihren Opfern zu machen, war nichts Ungewöhnliches für die Mörder. Der DDR-Publizist Peter Edel, Überlebender der Lager Auschwitz, Sachsenhausen, Mauthausen und Ebensee, kommentiert diesen Umstand in seiner 1979 erschienenen Autobiographie "Wenn es ans Leben geht" wie folgt: "Man kennt die Fotos, die sie von sich anfertigen ließen, säuberlich in Alben klebten und beschrifteten; grinsende Visagen über Leichengruben." Das freilich gilt für die Täter im vermeintlich weit entfernten Osten, die schießenden Angehörigen der Einsatzgruppen. Laut Klaus Hesse wird auf den jetzt präsentierten Fotos zusätzlich ein bislang wenig bekanntes Bild der Gestapo-Täter gezeichnet: "Nicht Schußwaffe und Lederpeitsche scheinen für sie typisch, sondern Papier, Stift und Aktentasche." In der Heimat reichten diese harmlos wirkenden Utensilien aus. Für die 250.000 aus dem ehemaligen Reichs- und Protektoratsgebiet deportierten Juden begann das Leid aber in uns allen bekannten Städten und Gemeinden, vor aller Augen eben.

In einem Epilog zeigen Klaus Hesse und Philipp Springer sieben Aufnahmen, die die Verwertung jüdischen Eigentums widerspiegeln. Es handelt sich um die Gegenstände, die man nicht mit "nach dem Osten" schleppen konnte: Öfen, Stühle, Tische, Schränke etc. In der Regel wurden diese Güter unter den Geschädigten der Luftangriffe auf deutsche Städte verteilt. "Während die Besitzer auf dem Weg in die Vernichtung waren", heißt es in der Bildunterschrift, "wurden in ihrer Heimat durch das Verteilen ihrer Hinterlassenschaft die letzten Spuren der jüdischen Bevölkerung ausgelöscht." So kann man diese Depots auch als Vorstufe der Effektenkammern in den KZ's begreifen, etwa des Lagers "Kanada" in Auschwitz-Birkenau. Die auf den Fotos zu sehenden Gegenstände fielen an, wie die Haare, Brillen, Schuhe und Koffer, die in Auschwitz, mithin am Ort der Vernichtung, ausgestellt sind. Ihre Vermehrung bedeutete den Tod von immer mehr Menschen. Sie sind gleichsam ein Abbild des Genozids.

Titelbild

Klaus Hesse / Philipp Springer: Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz.
Herausgegeben von Reinhard Rürup für die Stiftung Topographie des Terrors.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2002.
216 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3884749501

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