Professionelles Mogeln für Systemtheoretiker
Dirk Baeckers Aufsatzsammlung "Wozu Systeme?"
Von Jens Kiefer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Dirk Baecker 2000 in der Volksbühne in Berlin den in "Wozu Systeme?" enthaltenen Aufsatz "Was wollen die Roboter?" vorstellte, meldete sich ein entrüsteter Herr aus dem Publikum und kommentierte den Vortrag mit den Worten "Wenn Sie ein Professor sind, dann ist mein Hund auch einer." Ganz klar, dieser Mann hatte eine einfache und befriedigende Antwort auf die im Titel des Aufsatzes formulierte Frage erwartet, und einfache Antworten geben entspricht nicht der Strategie Baeckers. Nein, vielmehr könnte man manchmal meinen, Systemtheoretiker lieben es nur Fragen zu beantworten, die sie gar nicht gestellt haben. Wer also eine einfache Antwort auf die Frage "wozu Systeme?" erwartet, könnte ebenso wie der Berliner Hundebesitzer enttäuscht werden, denn auch diese Frage wird nur über Umwege beantwortet. Oder aber man muss mit einer sehr einfachen Antwort zufrieden sein: weil es eben sinnvoll ist, davon auszugehen, dass es Systeme gibt. Aber dann ist man eher wie diese Aufsatzsammlung Baeckers dabei, die Frage "wozu Systemtheorie?" zu beantworten. Dieses Offenlassen gestellter Fragen ist jedoch nicht Produkt eines Vergessens, sondern scheint mir programmatisch für eine paradoxieverliebte Theorie zu sein, die Wissenschaft betreiben eben nicht als Vermehrung von Wissen, sondern als Vermehrung von Nicht-Wissen begreift und die eigene Theoriepraxis als Mogelpackung charakterisiert (siehe "Wie steht es mit dem Willen Allahs?").
Diese Idee des produktiven Umgangs mit Nicht-Wissen dient als ein roter Faden, der die thematisch so unterschiedlichen Aufsätze über künstliche Intelligenz und über das systhemtheoretische Theoriedesign verbindet. Während Baeckers erste Aufsatzsammlung "Wozu Kultur?" auch für ein theoretisch noch unbelecktes Lesepublikum interessant und überaus erhellend war, bietet "Wozu Systeme?" starken Tobak für Neueinsteiger. Das mag zum einen an der größeren Veranschaulichbarkeit des Themas Kultur liegen, zum anderen aber auch an der Gewöhnungsbedürftigkeit einer Soziologie, die es verlangt, sich in logisch-mathematische Grundlagen und Formeln einzufuchsen, wie sie hier reichlich vertreten sind. Das Buch schreit also nach Lesern, die das systemtheoretische Vokabular bereits verdaut haben und jetzt danach dürsten, sich mehr an den Selbstbeschreibungen der Theorie als an ihren Ergebnissen zu laben. Unbedingt lesenswert sind hierfür die beiden Aufsätze "Die Theorieform des Systems" und "Wie steht es mit dem Willen Allahs?". In ersterem macht Baecker deutlich, dass die eigentliche Entdeckung der Systemtheorie nicht der Systemcharakter des Sozialen ist, sondern die Entdeckung der Umwelt, und schlägt daher vor, die Systemtheorie in Systemumwelttheorie umzutaufen. Ein Vorschlag, der Forschungsfolgen haben könnte.
Baeckers Beobachtung des eigenen Theorievorgehens betont vor allem den Bruch mit traditionellem Kausalitätsdenken. Ursache und Wirkung werden in der Systemtheorie asymmetriert, zirkulär verknüpft und als Rückkopplungen oder Abweichungsverstärkungen verstanden. Auf der Suche nach einer Beschreibung dieses Vorgehens findet Baecker die Metapher des Jokers, den die Systemtheorie als Parasiten in das System mogelt. Mogeln selbst wird dann in "Wie steht es mit dem Willen Allahs?" zur Leitmetapher des systemtheoretischen Denkens überhaupt erhoben. Baeckers Aufsatz antwortet auf einen rechtssoziologischen Aufsatz Luhmanns, in dem dieser anhand eines nicht-aufgehenden Rechenexempels aus dem Koran Fragen über das Rechtssystem ableitet. Luhmanns Thematisierung des 12. Kamels, das benötigt wird, um elf Kamele unter drei Söhnen zu verteilen, ist auf Seiten der Systemtheorie zu einem beliebten pseudo-kabbalistischen Denkspielchen geworden, an dem sich außer Luhmann und Baecker auch schon Heinz von Foerster beteiligt hat. Baecker versteht die Problemlösung, ein Extrakamel aus Rechenzwecken zu addieren, das nach der Aufteilung der Kamele jedoch wieder zurückgegeben werden muss, als eine Mogelei, die dem systemtheoretischen Mitrechnen eines Beobachters nicht unähnlich ist. Diese Metapher erlaubt es Baecker, in so verschiedenen Bereichen wie Pädagogik, Management oder Kultur Mogeleien aufzuspüren, die wie das zwölfte Kamel funktionieren und die benötigt werden, um eingefahrene Systemlogiken wieder beweglich zu machen. Nach dem Willen Allahs gefragt, kann Baecker also ohne schlechtes Gewissen die Grenze zwischen Kommunikation und Bewusstsein überspringen, in Allahs Bewusstsein schauen und antworten, dass dieser die Mogelei und den Einsatz von Kamelen dann befürwortet, wenn sie der Gesellschaft und ihrem Modus der Ausdifferenzierung dienen. Und ein ähnliches Urteil lässt sich über "Wozu Systeme?" und die Systemtheorie allgemein fällen: Mogeln erlaubt, solange es neues Nicht-Wissen produziert.
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