Notgemeinschaft

Thomas Kastura thematisiert in "Die letzte Lüge" das sehr deutsche Phänomen der Krise

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Krise. Sie ist überall. Wenn man den Fernseher einschaltet, die Zeitung aufschlägt oder sich auch einfach nur mit Freunden trifft. Überall wird von ihr geredet und alle beklagen, wie schlecht es uns doch geht, den Städten, den Kommunen, den Ländern, kurzum: dem ganzen Land. Sei es nun, dass es die Konjunktur ist, die am Boden liegt, oder die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die sich einfach nicht verbessern will, in einem sind sich alle einig: die schönsten Zeiten sind vorbei.

"Alles Lüge", möchte man da am liebsten Rio Reiser zitieren oder wenigstens Thomas Kastura, der nach einigen wissenschaftlichen Abhandlungen über Dandys und das Schülerleben um 1900 mit "Die letzte Lüge" nun seinen ersten Roman vorgelegt hat, in dem es auch um Krisen geht. Krisen zwar, die nicht unbedingt die deutsche Wirtschaft betreffen. Das wäre wahrscheinlich auch zu abstrakt für einen Roman wie diesen hier. Dafür bestimmen sie aber das Leben des Protagonisten, auch wenn sich dieser zu Beginn des Romans noch dagegen zu wehren scheint, indem er schlichtweg behauptet: "Krisen sind nicht so meins. Da komme ich nur schwer wieder raus."

Aber schon anhand dieser ersten zwei Sätze, die den Anfang eines sich über viele Seiten erstreckenden Monologes bilden, wird deutlich, dass das "große Drama" - von dem der Autor gerne spricht - schon längst seinen Lauf genommen hat. Denn es ist nicht so, wie es Viktor, der Ich-Erzähler dieses Romans, gerne hätte, dass seine Taktik, was Krisen betrifft, aufgehen würde und er einfach nur "irgendwas tun" müsste, bevor es zu einer solchen kommen könnte. "Nicht denken, einfach handeln", sagt er sich. "Das hilft." Dass er aber schließlich gar nicht mehr handelt, sondern nur noch denkt, hilft dann aber weder ihm selbst noch dem Leser weiter, so dass auch dieses nur eines von vielen Versprechen ist, die der Roman nicht einzulösen vermag.

Das liegt vor allem an der Geschichte selbst, die davon handelt, dass die sechzehnjährige Phil ihren Vater Viktor darum bittet, ihr bei der Beseitigung einer Leiche behilflich zu sein. Viktor stellt zunächst keine Fragen, beseitigt die Leiche und reist schließlich mit seiner Tochter nach Italien, um sich von den Turbulenzen der letzten Tage zu erholen. Dabei kommt Viktor zum ersten Mal nach dem Tod der Mutter seinen Vaterpflichten nach, allerdings nicht ganz uneigennützig, schließlich geht es ihm auch darum, seinem eintönigen Leben den heiß ersehnten Kick zu geben. Er befindet sich also mitten in der Midlifecrisis. Da mag es dann auch nicht weiter verwundern, dass er sich während dieser Reise immer mehr in zwielichtige Geschäfte verstrickt, deren Bedeutung er erst erkennt, als es schon fast zu spät dafür ist. Die Welt verwandelt sich für Viktor also zu einer einzigen Kampfzone, die Gewalt kommt irgendwann von allen Seiten, unerwartet, schnell und tödlich. Das Bilderrepertoire scheint geradewegs dem Actiongenre entnommen zu sein und erinnert an manchen Stellen sogar an ganz großes Kino.

Dass der Roman dann aber doch hinter seinen Zielvorgaben zurückbleibt, hängt vor allem mit seiner Konstruktion zusammen. Zum einen ist er wie ein Triptychon angelegt, zum anderen durch nicht enden wollende Monologe im ersten und letzten Teil gekennzeichnet, die darüber hinaus auch noch den Lesefluss hemmen. Das ist aber gerade hinsichtlich eines "spannenden Kriminalromans" - so Goldmann - eher kontraproduktiv, vor allem wenn man bedenkt, dass ein Kriminalroman gerade davon lebt, dass Spannung erzeugt wird.

Da hilft es dann auch nichts, wenn der zweite Teil des Romans darauf zielt, die Perspektive zu erweitern, indem er einen auktorialen Erzähler bemüht oder durch kurz eingeworfene Dialoge versucht, die starren Kompositionsschemata zu durchbrechen. Kastura, so scheint es, war nicht einfach nur daran interessiert, eine spannende Kriminalgeschichte, nur ein europäisches Roadmovie oder nur eine subtile Vater-Tochter-Geschichte zu schreiben. Ihm war an einem Zusammenspiel der verschiedenen Genres gelegen, an einem Mehr, wobei ein Weniger an manchen Stellen sinnvoller gewesen wäre. Vor allem im Hinblick auf den Spannungsaufbau und die Sprache, die mit gängigen Klischees der Brutalität und Coolness operiert. Deshalb reden die meisten Figuren auch in kurzen, knappen Sätzen, in Begriffen aus der Welt der Wohlstandskinder und Drogenkonsumenten.

Das Ergebnis ist eine Art Szene-Rotwelsch, eine professionalisierte Form der Reduktion von Komplexität, mit der Kastura - vielleicht etwas naiv und provinziell - den Eindruck einer authentischen Sprache erwecken möchte. Doch darauf kommt es hier nicht an. Vielmehr dient ihm dieses Sprachtableau nur dazu, die funktionale Anmutung zu unterlaufen, um dann in seltenen und eigentümlich rührenden Momenten die besonderen Beziehungen zwischen seinen Protagonisten deutlich zu machen. Viktor und seine Tochter leben in einer Geschichte mit Waffen, Drogen, Mord und Totschlag, und dennoch sind sie darum bemüht, aufeinander aufzupassen und sich umeinander zu kümmern. Dabei wird, wie fast immer, wenn es um das Menschliche geht, auch die Grenze zum Kitsch überschritten. So bleibt alles an der Oberfläche, unentrinnbares Klischee einer durch und durch kommerzialisierten Sprache.

"Manchmal habe ich auch Angst, nie wieder rauszukommen", sagt Viktor. Vielleicht weil er weiß, dass es bald so weit sein wird und er dann keine andere Möglichkeit hat, weil dann "nicht denken, einfach handeln" doch nichts mehr bewirkt und das Einzige, was einem dann bleibt, man selbst ist. Das Band, das Vater und Tochter bis dahin zusammenhält, wird die gemeinsame Geschichte sein, die allerdings schon ihre ersten Opfer gefordert hat - und "die letzte Lüge." Aber so ist es nun mal mit der Familie: In Krisen wird sie zur Notgemeinschaft.

Titelbild

Thomas Kastura: Die letzte Lüge.
Goldmann Verlag, München 2002.
254 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3442452953

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