Von der Napola nach Finnland

Manfred Peter Heins Erzählung "Fluchtfährte"

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hört man genau hin, vermag man vielleicht noch ein schwaches Echo jener Überlegungen zu vernehmen, mit denen der anmutig altmodische Erzählergermanist W.G. Sebald gerade erheblich für Aufregung und Widerspruch in den Feuilletons gesorgt hat. Im Herbst 1997 hatte er in Zürich eine Poetik-Vorlesung unter dem Titel "Luftkrieg und Literatur" abgehalten, die jetzt überarbeitet und ergänzt um eine Nachbemerkung zur Resonanz und einen fulminanten Essay zu Alfred Andersch als Buch erschienen ist. Er baute eine eher zufällige Beobachtung an der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur wurde Sebald bei genauerer Musterung zur zentralen These aus, es existiere so gut wie keine bedeutende literarische Auseinandersetzung mit den verheerenden Bombardements der deutschen Städte und ihrenn traumatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Flucht, Vertreibung und Zerstörung hätten kaum literarisch anspruchsvollen Niederschlag gefunden.

Den zahlreichen Kritiken waren auch Hinweise auf Autoren und Werke zu entnehmen, die einen angemessenen Verschriftungsversuch jener kollektiven Katastrophe unternommen hätten. Auch für das Vernichtungserlebnis des Zweiten Weltkrieges konnte sicherlich gelten, was Walter Benjamin in seinem Lesskow-Essay für die Verheerungen 1914/18 diagnostizierte: "Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper." Vielleicht sollte man die jetzt erschienene, stark autobiographisch grundierte Erzählung "Fluchtfährte" des 1931 im ostpreußischen Darkehmen geborenen Dichters Manfred Peter Hein gerade vor dem Hintergrund dieser vermeintlichen Wahrnehmungsinsuffizienz lesen.

Und nun die Vergegenwärtigung einer ostpreußischen Kindheit und Jugend im Schoß einer nationalsozialistisch inspirierten Familie. "Man hätte sie fragen können, die vor ein paar Jahren noch lebten oder vielleicht jetzt noch leben. Die Notwendigkeit der Archive auch für diese Dinge, die kleinen, beinah anonymen, vielleicht wären die einem heiß auf die Nägel gegangen." Nicht aber die eigenen Eltern befragt der Erzähler darüber, wie es war und wie es dazu kam, nicht seinen Vater, einen national gesinnten Volksschullehrer, denn dieser Vater schwieg zu allem, lebenslang. In permanentem Wechsel von Ich und Er geht der Erzähler den Weg der Selbstbefragung, der Anamnese.

Ein höchst eigenwilliger Ton bildet sich da aus, der die Abbreviatur des Lyrikers Hein in Prosa überführen möchte und assoziativ durch erinnerte Gespräche und Situationen huscht. Wir folgen den Spuren eines Lebens, das mit einem Irrtum beginnt: Der Erzähler wird im Haus seiner Großeltern geboren, nicht wie geplant im Heim der Eltern, wo der Vater sich bereits vor 1933 in achtundzwanzig Ehrenämtern aufrieb, erfolglos an einer Schriftsteller-, Wissenschaftler- und Sportlerkarriere arbeitete und den Sohn zum Schreiben bestimmte. Bis zu dieser auferlegten Autorschaft freilich durchläuft der Junge die Napola und träumt noch 1945 auf der Flucht in die hessische Provinz die hohlen Ostlandträume seiner Eltern mit.

Vor den Schulkameraden dann auf dem Gymnasium das Erlebnis der ersten Lesung aus Eigenem, schwitzend unterm Arm die kleine Geschichte, immer im Bewußtsein: "Winzling, unreif, überall zu spät. Träumer - Waldgänger ... Flüchtling." Erst als Werkstudent in Marburg, München und Göttingen gelingt es dem Heranwachsenden, sich aus der "ostischen Mystik" seines Vaters herauszuwinden. Vor allem die Reisen des plötzlich Erwachsenen in die nordöstlichen Landschaften werden in der Rückschau des Epilogs lesbar als notwendige Ausbruchsbewegungen, die ihren sprichwörtlichen Fluchtpunkt in der Emigration nach Finnland finden.

Im Blick auf die eigene Jugend steht diese Erzählung vielleicht in einer Linie mit den autobiographisch fundierten und literarisch überformten Vergegenwärtigungsversuchen eines Martin Walser ("Ein springender Brunnen"), Ludwig Harig ("Ordnung ist das ganze Leben"), Gert Hofmann ("Veilchenfeld") oder Erwin Blumenfeld ("Einbildungsroman").

Heins Erzählung erinnert stilistisch und atmosphärisch an den "Törleß", auch an Arno Schmidts "Umsiedler". Allerdings bereitet der manchmal nahezu privatsprachliche Ton in seiner Dichte doch einige Mühe und verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Ein spröder Stil, der es sich und dem Leser nicht leicht machen kann und will, und ein Erinnern, das sich erkennt als "sich aufbrauchende vom Leib zu schreibende Nostalgie".

Titelbild

Manfred Peter Hein: Fluchtfährte.
Ammann Verlag, Zürich 1999.
200 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3250103926

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