Kafka geht in die Luft

Peter Demetz über die Flugbegeisterung von Kafka, Brod, d'Annunzio und Puccini

Von Ernst GrabovszkiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ernst Grabovszki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 1909 konnte der italienische Ort Brescia mit einer kleinen Sensation aufwarten: einer Flugschau, in der die damals berühmtesten Piloten auftraten: Glenn Curtiss, Mario Calderara und Louis Blériot, der wenige Wochen davor, am 23. Juli 1909, als erster den Ärmelkanal überquert hatte. Rund sechzig nationale und internationale Zeitungen berichteten über die Flugschau von Brescia. Unter den Berichterstattern ragt ein Name heraus, nicht weil sein Artikel als besonders gelungen gelten darf - der Redakteur kürzte den Text um rund ein Fünftel -, sondern weil er später zum Kanon der Weltliteratur zählte: Franz Kafka. Die Tageszeitung "Bohemia" druckte am 29. September 1909 seinen Beitrag "Die Aeroplane von Brescia". Es war Kafkas Debüt als Journalist gewesen, das für sein späteres Werk nicht ohne Folgen geblieben ist. In seiner Analyse von Kafkas Zeitungsbericht macht Demetz deutlich, dass in den Texten des Autors häufig Flugmetaphern vorkommen und Kafka ein Vokabular verwendete, das der Techniksprache jener Zeit sehr nahe kommt.

Die Flugschau von Reims, die einige Wochen vor jener in Brescia stattgefunden hatte, warf keine günstigen Schatten voraus: Brennende Motoren, Unfälle, gebrochene Propeller, ohnmächtige Besucherinnen sorgten nicht gerade für gute Stimmung unter den Veranstaltern. Aber dennoch: Die Jahre von 1909 bis 1912 war die kurze, aber glorreiche Zeit der Flugschauen, und kleinere Missgeschicke taten der Sensationslust der Zuschauer keinen Abbruch. Darüber hinaus sollten die Shows das hohe Niveau der italienischen Fliegerei demonstrieren - nicht umsonst waren der 19. und 20. September italienische Nationalfeiertage gewesen, und nicht umsonst wohnten König Vittorio Emmanuele III und eine Reihe von Regierungsmitgliedern der Flugschau bei. Demetz macht jene Zeit lebendig, in der die Menschen fliegen lernten und zeigt, dass bereits die ungeschickten Anfänge der Luftfahrt kommerzialisiert waren. Wenn sich heute die Formel-1-Piloten über die Rennstrecken der Welt tummeln, so wussten auch die Piloten der Lüfte nach der Jahrhundertwende, worauf sie sich einließen: auf Sport mit Massencharakter, an dem die Medien den größtmöglichen Anteil nahmen. Die Besucher der Flugschau von Brescia mussten allerdings einige Geduld aufbringen. Mangelhafte Planung - das Restaurant etwa war zu klein geraten und dem Ansturm nicht gewachsen -, verspätete Starts der Starpiloten und Abstürze waren an der Tagesordnung. Dabei war es Tage zuvor, als die Show vorbereitet wurde, noch schlimmer zugegangen.

Kaum ein Pilot oder Flugzeug überstand die Probeflüge heil. Heutige Sicherheitsstandards hätten eine Durchführung der Veranstaltung gewiss verhindert. Aber der Pioniergeist der Piloten und die kommerziellen Interessen der Veranstalter machten die ohnehin kaum vorhandenen Bedenken rasch zunichte. Der zweite Tag verlief allerdings kaum anders: eine technische Panne nach der anderen, enttäuschte Flieger, zu strenge Schiedsrichter, die darauf zu achten hatten, dass sich die Piloten auch an die Reglements hielten - man durfte etwa eine Flughöhe von 93 Metern nicht überschreiten. Am dritten Tag war aufgrund heftiger Regenfälle kaum ans Fliegen zu denken. Aber wenigstens am Boden gab es einiges zu sehen, nämlich Giacomo Puccini, Gabriele d'Annunzio und den Star-Journalisten Luigi Barzini, die eingetroffen waren, um die Flugschau für Public Relations zu nützen. D'Annunzio ließ es sich natürlich nicht nehmen, zuerst mit Glenn Curtis und dann mit Leutnant Calderara in die Luft zu steigen. Sein Wunsch, Pilot zu werden, hatte sich in diesem Augenblick wohl gefestigt und ist später auch Wirklichkeit geworden: Im Jahr 1918 flog d'Annunzio tatsächlich, freilich nicht zum Vergnügen, sondern einen Luftangriff auf Wien. Er nutzte seinen Aufenthalt in Brescia, um für seinen Fliegerroman "Forse che sí forse que no" zu recherchieren, an dem er gerade arbeitete.

Mitten unter den neugierigen und teilweise auch wohl enttäuschten Flugfans spazierten Kafka, Max und Otto Brod herum. Für sie interessierten sich die Journalisten nicht. Kafka hatte zu dieser Zeit noch nichts veröffentlicht, lediglich Max Brod war mit einigen Romanen einem literarischen Publikum bekannt, das bis Brescia offensichtlich nicht reichte. Auch Brod hatte sich - wie Kafka - journalistisch mit der Fliegerei auseinandergesetzt und über Blériots Überquerung des Ärmelkanals berichtet.

Demetz' akribisch recherchierte Mikrostudie ist ein Fundus an glänzenden Details. Der Autor fügt Stein an Stein zu einem bunten Mosaik an Stimmungen, Bildern, Biographien und literarischen Einflüssen. Er möchte seine Mikrogeschichte allerdings nicht als eine wissenschaftliche Monographie verstanden wissen, sondern als Entertainment. Das ist Demetz in jeder Hinsicht gelungen, weil er zeigt, wie ausgedehnt das Gesichtsfeld des Literaturhistorikers sein kann. Es muss keineswegs an den Rändern der Geschichte und schon gar nicht an den Rändern der Texte enden, sondern kann auf erfrischende Weise die verwinkelten Wege des Gewesenen beschreiten. Damit schafft Demetz die Texte vom oft realitätsfremden Himmel der Interpretationen auf den Boden des Alltags, nämlich dorthin, wo sie entstanden sind: in einem Kontext, dessen Vielgestaltigkeit er eindrucksvoll in unsere Gegenwart zurückbringt.

Titelbild

Peter Demetz: Die Flugschau von Brescia. Kafka, d'Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen.
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Marenzeller.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552051996

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