Im Zweifel gegen den Angeklagten

Martin Pollack dokumentiert den beinahe vergessenen Justizskandal um den angeblichen Vatermörder Philipp Halsmann

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Ödön von Horváths 1930 erschienem Roman "Der ewige Spießer" sagt ein Zugreisender an einer Stelle in nicht schwacher Erregung: "'Den Halsmann sollns nur tüchtig einsperren bei Wasser und Brot! Ob nämlich der Judenbengel seinen Judentate erschlagen hat oder nicht, das ist wurscht! Da geht's um das Prestige der österreichischen Justiz, man kann sich doch nicht alles von den Juden gefallen lassen!'" Derartig viel Aufsehen, gar internationales, erregte der heute beinahe vergessene Fall um Philipp Halsmann, dass Horváth den Zündstoff der bis in unsere Gegenwart hinein ungeklärten Geschehnisse im Tiroler Zillertal in seinem Buch erwähnt.

Die Zeitungen waren voll von der Sache, die Horváth knapp, gleichwohl im Kern andeutet und die Pollack in seinem Dokumentarroman auf das Intensivste beleuchtet: Eine nicht geringfügige Rolle scheinen die Vorurteile der österreichischen Justiz und vor allem des Volkes zu spielen, auf die sich die Anklage gegen Philipp Halsmann als Vatermörder stützt. Die Stimmung in Tirol war antisemitisch ausgesprochen aufgeheizt. In einem neueren Interview weist Pollack zwar darauf hin, dass man Vorsicht walten lassen müsse, das Verfahren als solches antisemitisch zu nennen, gleichwohl ermöglicht die umfassende Recherche des ehemaligen "Spiegel"-Journalisten einen ungetrübten Blick auf die gesamte judenfeindliche Atmosphäre der Zeit, die in Tirol eben eine besonders starke Ausprägung fand. Zahlreiche Originalquellen, speziell des "Tiroler Antisemiten-Bundes", sprechen eine eindeutige Sprache. Der Eindruck, die Anklage gründe nicht auf objektiven Verdachtsmomenten, drängt sich so bereits im ersten Prozess auf und verschärft sich im zweiten umso mehr.

Das Unglück des 10.September 1928 ist in sich voll Spannung und man sollte annehmen, es bedürfe nicht eigentlich einer Verdichtung der Ereignisse. Schon die ersten Passagen des Buches sollen eines Besseren belehren. In höchst dramatischer Sachlichkeit protokolliert Pollack die Geschehnisse, die im anderen Leben des Philipp Halsmann eine Rolle spielen, bevor er in den USA unter dem Namen Philippe Halsman zu dem berühmten Starfotografen avanciert, vor dessen Kamera sich Persönlichkeiten wie die Monroe, Albert Einstein, Dali, Picasso, Hitchcock und Marlon Brando drängen.

Das traurigste Kapitel seines Lebens hatte Philipp Halsmann nach seiner Begnadigung im Jahr 1930 verständlicherweise aus seiner Biografie streichen wollen, - was ihm recht erfolgreich gelungen ist. Bei seinen Nachforschungen hatte Pollack journalistische Fleißarbeit zu leisten. Nur wenige Tatsachen sind bekannt und die Versuchung für einen Schriftsteller ist groß, hinzu zu interpretieren, da wo sich Löcher auftun. Doch Pollack widersteht der Versuchung, er stopft nicht notdürftig aus, sondern macht den Kriminalfall in seinen vielarmigen Verzweigungen und Undurchschaubarkeiten durchsichtig. Er liefert eine kritisch-aufklärende Analyse der Realität ohne dabei das Ganze propagandistisch zu verzerren. Pollack versucht nicht, eine nachträgliche Lösung anzubieten, vielmehr ist ihm daran gelegen, die Umstände der einstigen Untersuchungen detailliert zu referieren. Mit seiner dichterischen Gestaltungskraft versteht er es, das dokumentarische Material so in seine Erzähltechnik zu integrieren, dass sich das fertige Produkt als leidenschaftliche, historisch exakte Reportage der Ereignisse präsentiert und dabei die Genres Krimi, Geschichtsschreibung und Liebesgeschichte in sich eint.

Was war geschehen? - Am Tag des Unfalls setzen der 48jährige jüdische Zahnarzt Murdoch Halsmann und dessen 22 Jahre alter Sohn ihre bereits länger andauernde Bergtour fort. Aus rätselhaft bleibenden Gründen stürzt der Vater von einem Pfad ab und bleibt schwer verletzt oder bereits tot - die späteren Ermittlungen können dies nicht mehr aufklären - in einem Bach liegen. Bedauerlicherweise gibt es keine Zeugen. Philipp Halsmann, der dem Vater vorangegangen war, sagt bei seiner Vernehmung aus, er habe sich nach ihm umgedreht, weil er einen Schrei gehört zu haben glaubte, - möglicherweise sah er aber auch zuerst zurück und vernahm den Schrei anschließend. Er beobachtete, wie sein Vater vom Weg in die Tiefe hinab fiel, eilte ihm nach und fand ihn noch atmend. Die extrem auffallende Stirnverletzung, die tief in den Schädel eingedrungen war, sei ihm zu diesem Zeitpunkt nicht aufgefallen. Die Obduktion ergibt jedoch, dass die massive Blessur auf keinen Fall vom Aufschlag im Flussbett herrühren kann. Fest steht, dass der Vater durch zahlreiche wuchtige Hiebe mit einem Stein erschlagen worden sein muss. "Der Täter mußte wie ein Rasender auf sein Opfer eingeschlagen haben." Am Abend des Unfalltages wird Philipp Halsmann verhaftet. "Anklage Vatermord!"

Sensationsgier macht das Vorkommnis schleunigst publik, die Presse stürzt sich auf die Sache, wartet auf mit zum Teil absolut haltlosen Spekulationen, die nie ein nachvollziehbares Gesamtbild ergeben. Selbst Versicherungsmord wird vermutet, doch der Rigaer Zahnarzt hatte keine dementsprechende Lebensversicherung abgeschlossen. Im ersten Verfahren "redet sich Halsmann selber ins Unglück." Stur beharrt er auf der Unfallversion, beteuert immer wieder seine vollkommene Unschuld, schließt einen Dritten als Täter aus und kann sich dennoch das Geschehene nicht erklären. Es gibt tatsächlich Indizien, die den Sohn des Opfers zu belasten scheinen: Eine Blutlache auf dem Bergweg, Haarbüschel an Zweigen und zu aller erst das große, klaffende Loch im Schädel. Andere Beweise hingegen sprechen gegen eine Täterschaft Philipp Halsmanns: Dem Toten fehlt ein relativ hoher Geldbetrag und an Körper und Kleidung des vermeintlichen Täters sind keinerlei Blutspritzer zu entdecken.

Das erste Verdikt über Philipp Halsmann lautet auf zehn Jahre Kerker wegen Mordes. Die wichtigsten Innsbrucker Zeitungen lehnen die Verurteilung ab und in einem Konvolut erklären bekannte Innsbrucker Professoren, dass sie anhand der Indizien nicht zu diesem Entscheid hätten kommen können. Und tatsächlich ist es nicht gelungen, eindeutig zu widerlegen, dass der Mord möglicherweise von einem Dritten hätte verübt werden können. Überdies lässt sich beim Sohn kein Mordmotiv ausmachen.

Das Wiederaufnahmeverfahren - Urteil: Vier Jahre Kerker wegen Totschlags - lässt die Innsbrucker Medizinische Fakultät Philipp Halsmanns Persönlichkeit beleuchten. Unter anderem wird eine Bindung des Angeklagten an seine Mutter im Sinne der Freudschen Lehre vom Ödipuskomplex nicht ausgeschlossen und die grundverschiedenen Naturen von Vater und Sohn hätten zwangsläufig zu Spannungen führen müssen. Die Berufung auf den Ödipuskomplex im Gutachten veranlasst Sigmund Freud selbst zu einer Stellungnahme, in der er die Erwähnung als irreführend bezeichnet. Der Ödipuskomplex eigene sich nicht zu einem Schluss auf die Täterschaft. Auch die Zeugenaussagen deuten nicht eindeutig auf ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis hin, dass einen Affektmord erklären könnte. Einer Kellnerin war zwar das grobe Verhalten des Vaters dem Sohn gegenüber aufgefallen, ein Junge hatte den Sohn heftig mit den Armen fuchteln sehen und das als Streit gedeutet, doch andere Zeugen sprechen von einem sehr freundschaftlichen Umgang der beiden Männer miteinander und wollen von Unstimmigkeiten nichts bemerkt haben.

Martin Pollack beschreibt die sich in Argumenten und Gegenargumenten laufend umgestaltende Wirklichkeit, legt die tiefgreifenden Mängel in der Beweisführung offen und lässt die Frage entstehen, welcher Leser, der als einer der zwölf Geschworen über Schuld und Unschuld zu entscheiden hätte, Philipp Halsmann guten Gewissens hätte verurteilen können. In der Rechtsbelehrung ist es versäumt worden, die Geschworenen zu gemahnen, dass sie den Angeklagten freisprechen müssen, sollten sie Zweifel an seiner Schuld hegen.

Titelbild

Martin Pollack: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.
324 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3552052062

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