Bilanz der Zeitschriftenforschung

Der von Wolfgang Hackl und Kurt Krolop herausgegebene Sammelband "Wortverbunden - zeitbedingt"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgerechnet die "Gartenlaube", die den bürgerlichen Traum vom Familienglück und heiler Welt vom 19. Ins 20. Jahrhundert retten wollte, soll Kafka schöne Lesestunden bereitet haben? Tatsächlich. Im Januar 1913 schreibt er der fernen Felice: "Ich habe jetzt, Liebste, nach langer Zeit wieder einmal eine schöne Stunde mit Lesen verbracht. Niemals würdest Du erraten, was ich gelesen habe und was mir solche Freude gemacht hat. Es war ein alter Jahrgang der ,Gartenlaube' aus dem Jahr 1863. Ich habe nichts Bestimmtes gelesen, sondern die 200 Seiten langsam durchgeblättert, die (damals noch wegen der kostspieligen Reproduktion seltenen) Bilder angeschaut und nur hie und da etwas besonders Interessantes gelesen. Immer wieder zieht es mich so in alte Zeiten, und der Genuß, menschliche Verhältnisse und Denkweisen in fertiger, aber noch ganz und gar verständlicher (mein Gott, 1863, es sind ja erst 50 Jahre her) Fassung zu erfahren, trotzdem aber nicht mehr imstande zu sein, sie von untenher gefühlsmäßig im Einzelnen zu erleben, also vor die Notwendigkeit gestellt sein, mit ihnen nach Belieben und Laune zu spielen, - dieser widerspruchsvolle Genuß ist für mich ungeheuer. Immer lese ich gerne alte Zeitungen und Zeitschriften."

Die Beschäftigung mit alten Zeitungen und Zeitschriften ist wie eine Reise mit einer Zeitmaschine. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, so unmittelbar mit dem Geist und der Atmosphäre einer vergangenen Epoche in Berührung zu kommen wie bei der Durchsicht alter Periodika. Trotzdem spielt die so genannte "Zeitschriftenforschung" unter dem Druck der rasant expandierenden neuen Medien in den Medien- und Kulturwissenschaften bislang eher eine Außenseiterrolle.

Dass dieser Wissenschaftszweig auf eine lange, jedoch nicht immer unproblematische Tradition zurückblicken kann, zeigt das Beispiel Wilmont Haackes, von vielen als Nestor der Publizistik gerühmt, dessen "Feuilletonkunde" in zwei Bänden 1942 und 1943 erschien und in den Fünfzigern, gründlich überarbeitet, als dreibändiges "Handbuch für Zeitungswissenschaft" neu aufgelegt wurde. Über Haackes Schwierigkeiten, das Objekt "Zeitschrift" zu definieren, ohne zumindest noch Schlacken autoritären Gedankenguts mitzuführen, hat Wolfgang Duchkowitsch einen erhellenden Beitrag verfasst. Erschienen ist er in einem vom Innsbrucker Literaturwissenschaftler Wolfgang Hackl und dem Karl-Kraus-Forscher Kurt Krolop herausgegebenen Sammelband mit 24 überwiegend kürzeren, zum Teil recht heterogenen Forschungsbeiträgen. Viele der Autoren sind an der Universität Innsbruck beheimatet. Neben forschungsgeschichtlichen Darstellungen zur Definition des Gegenstands finden sich in dem Band monografische Skizzen und Darstellungen mit unterschiedlicher Fokussierung auf literatur- und gattungsgeschichtliche Fragestellungen zur Genese oder zum Programm einer Zeitschrift, vom "Journal des Luxus und der Moden" aus dem 18. Jahrhundert über das "mediale Gesamtkunstwerk" "Simplicissimus" und die pazifistischen Strategien Franz Pfemferts in der "Aktion" bis zur österreichischen Literaturzeitschrift "Wort in der Zeit" und ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Literatur in den fünfziger Jahren. Schwerpunkte bilden dabei sozial- und ideologiegeschichtliche Aspekte sowie historische und kulturgeschichtliche Kontexte.

Während sich gleich vier Beiträgen Karl Kraus und seiner "Gegen-Zeitschrift", der "Fackel" widmen, beschäftigt sich nur einer mit den Zeitschriften der Gegenwart: Lorelies Ortner untersucht die Rolle heutiger Special Interest-Zeitschriften bei der Popularisierung von Fachwortschätzen und kommt zu dem plausiblen Ergebnis, dass sich z. B. die von Computerzeitschriften fetischhaft gepflegte Fachterminologie auf die identitätsstiftende Funktion dieser Fachwörter zurückführen lässt: "der Fachwortschatz hat [...] gruppenbildende, -stabilisierende und -abgrenzende Funktion. Expertenvokabular macht seine Benutzer zu Insidern - die Kenntnis solcher Insidervokabeln hat soziale und psychische Vorteile. Daher können die Textproduzenten immer wieder getrost auf die didaktische Einführung bzw. Erklärung des Fachvokabulars verzichten. Die Kriterien Verstehen und Verständlichkeit sind vor diesem Hintergrund anders zu definieren. Die Magazine verlieren ihr eingeschworenes Insiderpublikum nicht - dieses vollzieht seine Initiationsriten nur in anderen Kontexten."

Die beiden den Band beschließenden Beiträge widmen sich aktuellen Perspektiven und Problemen der Zeitungsforschung: etwa den Erfahrungen mit einem Zeitschriftendatenbank-Modellprojekt oder den neuen Möglichkeiten, Zeitschriften nicht mehr als Mikrofilm zu konservieren, sondern zu digitalisieren und per Internet und deskriptiv-analytischer Datenbank weltweite Zugriffsmöglichkeiten zu schaffen.

Titelbild

Wolfgang Hackl / Kurt Krolop (Hg.): Wortverbunden - Zeitbedingt. Perspektiven der Zeitschriftenforschung.
Studien Verlag, Innsbruck 2001.
344 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3706516063

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