Nicht mehr verfemt, nicht mehr vergessen

Zu Gabriele Sanders Monographie über Alfred Döblin

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Im Sommer 1957 ist er gestorben, noch immer ein verfemter Mann. Die meisten seiner Bücher sind vergriffen und liegen als herrenloses Strandgut umher." So hieß es 1958 in Walter Muschgs "Die Zerstörung der deutschen Literatur". Auch heute, 45 Jahre danach, gehört Döblin nicht unbedingt zu den meistgelesenen deutschen Autoren, wofür es mancherlei Gründe gibt. Dennoch lohnt es sich, Revue passieren zu lassen, was sich seitdem so geändert hat. Es existieren heute eine noch nicht ganz abgeschlossene, doch schon jetzt auf um die 40 Bände angewachsene kommentierte Werkausgabe, die, seinerzeit von Walter Muschg noch selber begonnen, inzwischen seit vielen Jahren von Anthony W. Riley betreut wird und zum Teil ins Taschenbuchprogramm des dtv übernommen. Eine Internationale Alfred Döblin-Gesellschaft hält im kommenden Oktober in Straßburg bereits ihr 14. Kolloquium ab. Mit dem "Jahrbuch für Internationale Germanistik" (Reihe A) werden die Ergebinsse jener Kolloquien auch in gedruckter Form zugänglich gemacht. Ein Döblin-Platz in Berlin, ein Döblin-Haus in Wewelsfleth, eine Döblin-Stiftung, ein Döblin-Preis und ein Döblin-Förderpreis dokumentieren die Präsenz des Autors ebenso wie die TV-Verfilmungen von "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" und "Berlin Alexanderplatz", zwei audiovisuelle Medienerzeugnisse, die zur Verankerung Döblins im allgemeinen Bewusstsein ganz erheblich beigetragen haben. Es gibt inzwischen Bundesländer, in deren literarischem Kanon "Berlin Alexanderplatz" fest verankert ist, und umfängliche Unterrichtsmaterialien, über die die schulische Behandlung dieses Romans steuerbar wird. Und neben manch anderem sei schließlich nicht zu vergessenen eine journalistische wie wissenschaftliche Sekundärliteratur zu Alfred Döblin, die inzwischen fast alle Teile seines Werkes abdeckt und deren Titelzahl in die Tausende geht.

Zu dem, was sich innerhalb der Sekundärliteratur unter vielem anderen auch findet, gehört eine Reihe von Einführungen in Döblins Leben und Werk mit mehr oder weniger ausführlichen bibliographischen Hinweisen, die einst von Roland Links (1965) eröffnet und von Matthias Prangel (1973), Klaus Schröter (1978) und Armin Arnold (1996) fortgesetzt wurde. Das vorläufige Ende der Reihe bildet nun Gabriele Sanders "Alfred Döblin", ein Buch, das dem Konzept von Reclams Autorenmonographien folgt, sich aber von den genannten Arbeiten entschieden abhebt. Dort nämlich handelte es sich um relativ stark geraffte, schmale, Leben und Werk ineinander verflechtende Darstellungen, bei denen notwendigerweise scheinbar Unwichtigeres un- oder unterbelichtet blieb. Bei Gabriele Sander haben wir es mit einer anderen Dimension zu tun. Sie legt ein Buch von fast 400 Seiten vor, in dem das "Leben", "Das dichterische Werk" und "Das theoretische und essayistische Werk" in getrennten Teilen abgehandelt werden, ohne dass die Bezüge zwischen ihnen unbedacht blieben.

Abgesehen einmal von Louis Huguets "Alfred Döblin. Elements de biographie et bibliographie systématique" von 1968 findet sich nirgendwo sonst eine so ausführliche Beschreibung von Döblins Leben wie hier. Was an Material verfügbar ist, wurde da auf nahezu 100 Seiten zusammengetragen und ausgewertet. Auch bisher immer etwas prekären Details um Frieda Kunke und Yolla Niclas wurde nicht ausgewichen. Dass es dabei nicht zu wirklich neuen Einsichten kommt, sondern dass kompiliert wird, was sich ansonsten weit verstreut in Sekundärliteratur und Selbstzeugnissen findet, ist in der Konzeption dieser Autorenmonographien des Reclam Verlages so angelegt. Eine Deutung der Persönlichkeit des Autors vermag in sie nicht recht einzugehen, und die Frage, wer und was dieser Alfred Döblin nun eigentlich war, bleibt letztlich doch wieder offen. Denn die Summe aller Daten und Fakten vermag die Antwort nicht zu geben. Der Biograph hat das Bild der Persönlichkeit des Autors es aus jenem Material zu bilden. ES bedürfte dazu wohl einer Melange aus Tatsachenmaterial einerseits und Psychologie, Empathie, Phantasie und schriftstellerischem Vermögen andererseits. Oder anders gesagt, es liegt das Bild der Persönlichkeit des Autors eben nicht einfach im Tatsachenmaterial vergraben, sondern der Biograph hat es aus jenem Material zu bilden. Kurz, die Aufgabe einer Döblin-Biographie steht nach wie vor an.

Kompilation ist auch das Prinzip der beiden anderen Teile des Buchs: Entstehungsgeschichte, Inhalts-/Strukturskizze, Wirkungsgeschichte der dichterischen Werke im zweiten Teil und zusammenfassende Übersichten über die literatur-/kunsttheoretischen, politischen, philosophisch/religiösen und medizinisch/psychologischen Schriften im dritten Teil. Dabei gelingt es, der Überfrachtung der Darstellung mit Hinweisen auf die immense Forschungsliteratur auszuweichen und so die Lesbarkeit des Ganzen für den Nichtspezialisten zu bewahren und dennoch, geschickt und streng selektierend (umfassendere bibliographische Hinweise finden sich im Anhang), genau auf jene Namen zu verweisen, über die eine weitere Einarbeitung in den Gegenstand heute am zweckmäßigsten zu geschehen hätte. Bedauern mag man bei allem die einseitige Ausrichtung auf Deskription, was zur Folge hat, dass ein zur kommunikativen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand herausfordernder problemorientierter Impuls auf der Strecke bleibt. Freilich lag auch Letzteres wohl wieder außerhalb der Zielvorgabe der Arbeit. Der große Gewinn des Unternehmens liegt andererseits darin, dass es zum erstenmal auf wirklich alle Teile von Döblins Werk fokussiert. So findet sich neben den Highlights des Romanwerks eben auch all das, was erst - als wie peripher man es auch immer beurteilen mag - einen wirklichen Eindruck vom Ausmaß der Interessen und Tätigkeiten Döblins vermittelt: Abschnitte etwa zu den einzelnen Dramen, zum Hörspiel "Berlin Alexanderplatz", zu den Filmen und Drehbüchern, den Radiosendungen und den medizinischen und psychologischen Arbeiten (diese allerdings gar nicht so peripher, da sie in engstem Zusammenhang mit Döblins schriftstellerischem Verfahren zu sehen sind).

Sanders Buch ist, trotz hier vielleicht nicht einmal am rechten Ort vorgebrachter, geringfügiger Mäkelei, eine sehr lesbare und lesenswerte Gesamtdarstellung zu Alfred Döblin, die ausführlichste und materialreichste, die es zur Zeit gibt, eine brauchbare Einführung für Schüler, Lehrer, Studenten und alle anderen (noch nicht) Spezialisten, keine wissenschaftliches Neuland betretende Arbeit, doch ein auch für Experten praktisches Nachschlagewerk. Es könnte dazu beitragen, die Kluft zwischen Autor/Werk und Lesepublikum weiter zu verringern.

Titelbild

Gabriele Sander: Alfred Döblin.
Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
400 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3150176328

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