Vom Nach-Denken über die Aktualität toter Philosophen

John Rawls und die Geschichte der Moralphilosophie

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der im November 2002 verstorbene Philosoph John Rawls gilt im Bereich der politischen Philosophie als einer der wichtigsten Vertreter des 20. Jahrhunderts. Sein philosophisches Œuvre ist durchzogen von der Frage, wie die demokratische Gesellschaft unserer Tage legitimiert werden kann. Die einzelnen Schriften gruppieren sich um seine zwei Hauptwerke ("Eine Theorie der Gerechtigkeit" von 1975 und "Politischer Liberalismus" von 1998) und entfalten die Idee der "Gerechtigkeit als Fairness" in viele Spezialbereiche. Das nun in deutscher Übersetzung vorliegende Buch "Geschichte der Moralphilosophie" ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme: Hier findet man die moraltheoretischen Vorlesungen des berühmten Harvard-Philosophen, deren Mitschriften über Jahre hinweg von Hand zu Hand unter den Studierenden weitergereicht wurden.

Die Vorlesungen über Hume, Leibniz, Kant und Hegel sind behutsam für die Druckfassung überarbeitet worden, aber sie haben ihren eigentümlichen Charakter nicht verloren. So beginnt Rawls auch nicht direkt mit einem der genannten Philosophen, sondern mit einer relativ allgemeinen Einführung in die neuzeitliche Moralphilosophie. Wer erwartet hat, nur eine bloße Anwendung der Rawls'schen Philosophie auf namhafte Autoren der Moralphilosophie zu finden, wird weitgehend enttäuscht sein. Es geht Rawls nicht darum, zu zeigen, inwiefern die "Gerechtigkeit als Fairness" in einen traditionellen Zusammenhang gebracht werden kann, sondern Rawls interpretiert die Moralphilosophien zunächst textnah und für sich stehend. Damit erweist er sich als solider Lehrer der Philosophiegeschichte und gibt gleichzeitig zu erkennen, dass er sich in seinem Metier wirklich auskennt.

Rawls begründet das philosophische Interesse an der Geschichte der Moralphilosophie so: "Einer der Vorteile des Studiums historischer Texte - und des Versuchs, sich von der Gesamtauffassung eines Autors eine Vorstellung zu machen - [besteht] darin, dass wir allmählich einsehen, inwiefern philosophische Fragen eine andere Gestalt annehmen können als innerhalb des Denksystems, in dessen Rahmen sie gestellt und von dem sie in der Tat geprägt werden. Das ist nicht nur an und für sich erhellend, da es über verschiedene Formen des philosophischen Denkens Aufschluss gibt, sondern auch weil es uns dazu veranlasst, im Kontrast dazu unser eigenes, vielleicht immer noch implizites und nicht artikuliertes Denksystem zu betrachten."

Denn nur derjenige kann ernsthaft Philosophie betreiben, der sich mit den Problemen der Philosophie auseinandergesetzt hat. Philosoph zu sein heißt nicht, einmal im Leben eine interessante und immer wieder reproduzierbare Idee gehabt zu haben, sondern die philosophischen Probleme zu verstehen, d. h. sie im wahrsten Sinne des Wortes nach zu denken. So schreibt Rawls: "Das Großartige der hier untersuchten Werke liegt zum Teil in der Tiefe und Vielfalt der Formen, in denen sie uns etwas sagen können." Die Philosophie ist daher keine Lehre der Antworten, sondern der Fragen. Die Philosophiegeschichte versteht sich demgemäß als lebende Fragekultur, und die befragten Quellen ändern sich unter den Augen der Betrachter: Denkrahmen und Denksystem verschieben sich immer wieder und lassen keine 'letzte' Interpretation gelten.

Erst nach der Textanalyse der Quellen geht Rawls auf Aspekte ein, die sich auch in seiner eigenen Philosophie finden lassen. Sicherlich unterscheidet sich vor allem in dieser Hinsicht eine beliebige philosophische Einführung in die Moraltheorie von der vorliegenden: Die Auswahl der behandelten Philosophen, der Nachweis über die verwendete Literatur und vor allem die angebotene philosophische Interpretation der Klassiker machen das Buch interessant für alle, die sich systematisch mit dem Rawls'schen Denken befassen wollen: Hier offenbart sich sein moraltheoretisches Hintergrundverständnis. Ein Beispiel für eine Verknüpfung zwischen der "Gerechtigkeit als Fairness" und seiner Interpretation der 'toten Philosophen' findet sich in der "Geschichte von Aristides dem Gerechten", die Rawls in Anschluss an Hume erzählt: Ein Plan, mit der ein Krieg auf unfairem Wege schnell gewonnen werden könnte, wird vom Rat der Athener deshalb abgelehnt, weil die Räte gewissermaßen unter einer Art "Schleier der Unwissenheit" stehen, und deshalb der Gerechtigkeit den Vorzug geben müssen.

Während der Philosophie von Leibniz und Hegel in der "Geschichte der Moralphilosophie" nur eine untergeordnete Stellung zukommt (jeweils nur zwei Vorlesungen), sind Hume fünf Vorlesungen gewidmet. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar bei den zehn Kant-Vorlesungen, was nicht weiter erstaunen sollte, da Rawls schon seit den 70er Jahren die essentielle Bedeutung der kantischen Philosophie für die (und insbesondere auch seine) Moraltheorie herausgestellt hat.

Titelbild

John Rawls: Geschichte der Moralphilosophie. Hume, Leibniz, Kant, Hegel.
Herausgegeben von Barbara Herman.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Schulte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
486 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3518583565

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