Goethe war das Schwein und Lenz die arme Sau

Marc Buhl erzählt in "Der rote Domino" von den dunklen Seiten des Weimarer Dichterfürsten

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine unscheinbare Bemerkung Goethes bildet das Gravitationszentrum von Marc Buhls Debütroman "Der rote Domino". Am 26. November 1776 notiert Goethe lakonisch in sein Tagebuch: "Lenzens Eseley" - ohne einen weiteren Kommentar. Was war das für eine "Eseley" von Lenz, die schließlich zum Anlass genommen wurde, ihn aus Weimar auszuweisen? Und wie kam es zu der Entfremdung zwischen Goethe und Lenz, deren anfänglich enthusiastische Freundschaft sich etwa in dem kongenialen 'Teamwork' der "Sesenheimer Gedichte" manifestierte, einer derartig engen Zusammenarbeit der beiden Dichter mit der Folge, dass die Zuschreibung der einzelnen Gedichte bis heute nicht möglich ist? In genau diese Leerstellen der Literaturgeschichte, die der Forschung noch immer Rätsel aufgibt, passt Buhl eine literarhistorische Kriminalhandlung zwischen Fakten und Fiktion ein.

Die Arbeit an einer geisteswissenschaftlichen Promotion ist nicht nur für die Psyche des Doktoranden ein riskantes Unterfangen, sondern kann buchstäblich lebensgefährliche Konsequenzen haben. Zumindest vermutet dies das besorgte Ehepaar, das eines Tages bei Udo Stahl, einem Ghostwriter akademischer Textsorten aller Art auftaucht und ihm einen seltsamen Auftrag erteilt: Stahl soll ihre Tochter Bettina suchen. Die junge Germanistik-Studentin habe bei ihren Archiv-Forschungen über Jakob Michael Reinhold Lenz wohl spektakuläre, ja vielleicht sogar unheilvolle Entdeckungen gemacht und sei nun verschwunden.

Zusammen mit seinem Assistenten Drexler macht sich Stahl also auf die Suche nach der vermissten Germanistin. Der Schlüssel zur Lösung des Falls scheint dabei ein Konvolut von kompromittierenden Briefen von Goethe an Lenz zu sein, dessen Spur die Detektive zunächst in ein traurig-verkommenes, korruptes Russland und schließlich bis in das Weimarer Goethe-Archiv führt, das auch nicht so friedlich-klassisch ist, wie man vermuten würde. Hier sitzen die Gralshüter des Goethe-Nachlasses und versuchen mit allen kriminellen Mitteln, das reine Bild des Olympiers vor Skandalen zu schützen. Welche Enthüllungen aber können so brisant sein, fragt sich Stahl bald, dass mehrere Parteien den Packen alter Briefe jagen, als wären es Staatsgeheimnisse?

Buhl berichtet von dieser Textfahndung auf drei Zeitebenen, die regelmäßig alternierend hintereinandergeschaltet sind. Rückblenden in das Weimar von 1776 bilden den ersten Erzählstrang des Romans. Auf einer zweiten Ebene verfolgt Buhl die Irrfahrt der verräterischen Briefe durch die sowjetisch besetzte Zone im Juni 1945, während die Gegenwartshandlung den Leser schließlich in das Jahr 2001 zur Suche nach der verschollenen Germanistin führt.

Besonders anschaulich schildert Buhl die Intrigen am Weimarer Hof. In einer sorgfältig gemischten Legierung aus Dichtung und Wahrheit zeichnet der Roman die Entwicklungskurve der Freundschaft zwischen Lenz und Goethe nach, an deren Ende Lenz' Verbannung aus Weimar steht. Buhls Interpretation des Zerwürfnisses ist waghalsig: ",Goethe war das Schwein und Lenz die arme Sau', fing Peter Drexler an und machte eine künstlerische Pause." Knapp gesagt, hatten der literarischen These Buhls zufolge Goethe und Lenz in jungen Jahren eine schwule Beziehung, die der arrivierte Dichter und zukünftige Minister nun verheimlichen möchte. Lenz hingegen hält Goethes angestrebte politische Karriere für Verrat an der Dichtung und versucht ihn daher mit der Drohung, ihre Liebesbriefe öffentlich zu machen, zur Revision seiner Pläne zu zwingen.

Goethe reagiert auf diese Art der Freundschaftsbezeugung recht unolympisch. Aus Angst vor einem Skandal verleumdet er Lenz, spinnt Intrigen - und als nichts helfen will und der ehemalige Geliebte die Briefe nicht herausgibt, verprügelt der Geistesaristokrat den bemitleidenswerten Lenz sogar: "Goethe hämmert gegen seinen Schädel. Das schmerzt die Knöchel der Hand und macht ihn rasend. Er prügelt auf ihn ein. [...] Die Lippe platzt. Ein Zahn bricht aus." Genüsslich zeichnet Buhl ein Porträt des Dichterfürsten als junger Rowdy, das weit vom Bild des ehrwürdigen Klassikers entfernt ist - echter Sturm und Drang eben.

Doch wäre eine homosexuelle Neigung Goethes, zumal in jugendlichem Alter, heute tatsächlich noch von einem derartigen Skandalwert, dass zum Schutz seines Andenkens Verbrechen und andere Kleinigkeiten nötig wären? Wohl kaum, und so enttäuscht diese Auflösung zunächst etwas, bis Buhl dann die eigentliche, viel weitreichendere Ungeheuerlichkeit im Verhalten Goethes aufdeckt - ein gelungenes erzählerisches Manöver, das den Leser erst auf die falsche Fährte setzt und dann wirklich zu überraschen weiß.

Als einziger Kritikpunkt an diesem überzeugenden Literaturkrimi sei nur die Tendenz des Textes zu gelegentlich etwas angestrengt-bedeutungsschwerer Figurenrede in der Gegenwartshandlung vermerkt, wie etwa: "Man sollte nicht lieben", denn "man muss wissen, dass man für alles bezahlen wird." Zudem missfällt der Hang des Detektivs Stahl zu papiernen philosophischen, ja didaktischen Reflexionen, wohingegen dessen sarkastische Bemerkungen ansonsten eine Nähe zur Genre-Leitfigur Philip Marlowe suggerieren. Buhl ist dennoch insgesamt ein äußerst unterhaltsamer Roman aus der Welt der Archive geglückt, der versiert mit den Regeln und Klischees des Kriminalromans und des Spionagethrillers spielt.

Titelbild

Marc Buhl: Der rote Domino. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2002.
280 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3627000986

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