Dichten mit System

Harald Hartung lässt Gedichte langsamer träumen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verse sind wie gemacht für Luftfracht: Schwer zu transportieren und leicht zu verlieren, bedürfen sie großer Sorgsamkeit und bevorzugten Transports. Harald Hartung ist ein Experte auf diesem Gebiet und hat als pädagogischer, wissenschaftlicher und anthologischer Übermittler poetischer Güter selbstredend den Weg zum Selbstreimen gefunden. Schon sein assonantischer Name mag ihn auf die Formaspekte der Lyrik gestoßen haben, denen er - bereits ein Blick in den neuen Gedichtband "Langsamer träumen" belegt es - theoretisch und praktisch sehr zugetan ist. Wer bei "abba" nicht an erfolgreichen Pop, sondern an ein traditionsreiches Reimschema denkt (allerdings nicht nur er), wird sich bei Hartung rasch wohlfühlen. Ghasele wird er finden und natürlich Sonette, italienische, englische, freie. Zum Beispiel:

Er wäre gerne böse gewesen

Ihr Vater (Konrad) war wie Adenauer

Molly die Mutter ja! wie Molly Bloom

Er (Charlie) träumte schon vom kleinen Ruhm

als er sie küßte auf der Gartenmauer

Sie trug ein Fähnchen aus Lavabel

Sie schaukelten im Stadtpark mit dem Kahn

und in dem Wäldchen an der Autobahn

erforschte er die Gegend um den Nabel

Sie fragte Gibt es einen Gott? Er lachte

Sie weinte und er sagte Ja Marie!

und fühlte sich wie Mackie Messer, wie

der lächelte und wie ers schließlich machte

Gisela W. aus Recklinghausen-Süd

seit wieviel Jahren bist du schon verblüht

Hartungs Fünziger-Jahre-Sonett trifft ein Lebensgefühl, eine Zeit sinnlichgenau, gerade indem es sich lustvoll vieler Masken und Stimmen bedient: Goethes Gretchenfrage, James Joyce's Molly Bloom und Brechts "Dreigroschenoper"-Held. Das ganze Gedicht prägen unverkennbar Ton und Thematik Brechts, der diesen Charlie so sehr beeinflusst, dass er seine Gisela "Marie" nennt wie im berühmten Poem "Erinnerung an die Marie A.". Hartung gelingt aber mehr als eine artige Reverenz an den Augsburger: die Entjungferung im Zeichen jugendlicher Stilisierung und des kollektiven "Wir wären gerne wieder wer" korrespondiert, wenngleich als Schwundstufe, ideal mit des jungen Brechts Großmannsgetue, mit seinem Womanizer-Gestus und seiner angelesenen Anglophilie. Dies in ein englisches Sonett - drei Quartette samt Couple-Pointe - zu fassen, muss für Harald Hartung ein Hauptspaß gewesen sein.

Heiterkeit ersetzt ihm allerdings nicht die resignative Weisheit, sondern durchzieht sie, lockert sie auf und erhöht ihren Reiz. Das Staunen und das Spiel fehlen selten in den 74 Gedichten, ohne im mindesten ihren Ernst zu gefährden. Dabei rechnet Hartung zweifellos mit der Komplizenschaft des Lesers, zielt auf Herz und Hirn zugleich. Mit historischem Hintergrund, mit einem gewissen poetischen Vorrat genießt man seine Verse tiefer; wenn er in "Weißer Jahrgang" von der "Dicken Berta", der "Blutrinne" schreibt oder in "A room of my own" schon mit dem Titel auf Virginia Woolfs Essay anspielt und mit den folgenden Versen die mystische Gottessuche Rilkes aus dem "Stundenbuch" aufnimmt und variiert:

Am Schlüsselloch wo du lauschst

etwas Gottesgeruch

Endlich weißt du wie er riecht

hörst sein Geräusch sein schweres Atmen

Ach er atmet wie ich

atmet Menschengestank

zurück aus der leeren Kammer

"Alterslyrik" darf man Hartungs Gedichte rühmend nennen. Sie sprechen vom körperlichen Verfall, der Krankheit, von plötzlichen Erinnerungsbildern aus der Kinderzeit: nicht selten ein schrecklicher Überfall, dem klärende Worte entgegengestellt werden müssen. Sie sprechen vom Nachlassen der Augen und beweisen den schärferen geistigen Blick, den man nur in der Distanz, in der Kontemplation gewinnen kann. Die Fähigkeit, seine Sichtweise zu relativieren oder eine ganz andere für möglich zu halten, wie in "San Sebastian", gehört wohl ebenfalls zum Alter; vielleicht variierte Hartung hier sogar Christian Morgensterns "Vice versa".

Am Ende der Sammlung, die zwischen 1995 und 2001 entstand, steht "Das lange Gedicht", sechs Zeilen insgesamt. Viel länger dehnt sich keines aus, und doch steckt in der Kargheit das, was man im Barock "sinnreich" nannte: hoch evidente Bilder, eine Fülle von Anspielungen, Verneigungen vor Dichterkollegen (Loerke, Benn, Nietzsche), effektsichere Wendungen voll Trauer und Komik, kontrastreiche Gedanken, formale Finessen (mit mancherlei, nicht immer überzeugenden Abweichungen); und schließlich strahlt aus den Versen eine Helligkeit, die mehr mit Auf- als mit Abgeklärtheit zu tun hat. Ein unauffälliges "sapienti sat" steht zwischen den Zeilen. Ein Augenzwinkern, nicht ohne Spuren von Müdigkeit, doch schälkisch blitzt aus den Sätzen, und plötzlich grölen Sonette im fröhlichen Gassenhauer-Ton darein.

Diese glänzende Gedichtsammlung braucht natürlich kein Etikett, doch wenn die Leser eines brauchen, könnte man ein schlichtes blaues nehmen, mit dem die Schweizer Post bevorzugte Sendungen kennzeichnet: "Priority / Prioritaire".

Titelbild

Harald Hartung: Langsamer träumen. Gedichte.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
96 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3446202374

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