Lebenslang

Ulrike Kolb schreibt in ihrem Roman "Diese eine Nacht" über eine Freundschaft

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Künstler Zott liegt - Gründe werden nicht genannt - auf einer Intensivstation im Koma. Neben ihm harrt seine langjährige Freundin aus, eine ganze Nacht lang, mit der Aufgabe, mit ihm zu reden, was ihr schwer fällt, war sie doch diejenige, die verstummte, wenn es ans Reden ging. Bis sie in den späten 60er Jahren in Seminaren lernte zu sprechen. Eine einsame Sache, diese nächtliche Wache. Was erzählt man einem Menschen, der reglos vor einem liegt und nicht antworten kann?

Ulrike Kolb, zuletzt mit "Frühstück mit Max", einem Roman über die 70er Jahre, vielgelesen, legt in ihrem neuen Buch "Diese eine Nacht" einen literarischen inneren Monolog vor.

In dieser besonderen Nacht kreist das Denken der Ich-Erzählerin um das, was sie mit dem Koma-Patienten verbindet: ihre gemeinsame Kindheit in einem Internat, die scheuen Anfänge ihrer Freundschaft. Sie haben sich mal intensiver, mal auf Abstand über mehrere Jahrzehnte begleitet. Trotz der anfänglichen Kindheitsliebe findet das 'erste Mal' nicht zwischen ihnen statt, Zott hat seiner Vertrauten zwei Lebensjahre voraus, die hinsichtlich solch existentieller Lebenserfahrungen entscheidend sind. Zott wird Künstler, sie wird Journalistin. Er hält sich in Frankreich auf, von einer Reise nach Jerusalem ist die Rede, sie ist viel unterwegs. Partner tauchen auf, Hochzeiten, Ehen, Kinder - die beiden erleben das Leben des anderen mit, auch wenn lange Zeit Schweigen zwischen ihnen herrschen kann. In entscheidenden Augenblicken, Selbstmordstimmung beispielsweise, taucht der jeweils andere auf und bringt Rettung, Trost, Hilfe. Erst spät wird aus ihnen ein Paar, der Rollentausch von engen Vertrauten zum Liebesduo funktioniert nur begrenzt, es kommt zur Trennung.

Die Autorin präsentiert eine vielseitige, starke, konfliktreiche, unersättliche Freundschaft, die in einem langen Monolog von der weiblichen Erzählfigur in dieser Nacht aufgeblättert wird. Gekonnt in assoziative Bilder gebracht, laufen Erinnerungssequenzen und einzelne Szenen wie ein Film im Kopf der Frau zusammen, die sie mit Fragen umrahmt ihrem schweigenden Freund erzählt. Vieles ist ungeklärt zwischen den beiden, doch setzt sich aus den Facetten etwas zusammen, zwei biografische Linien entstehen. Das ist das Spannende in diesem Roman, dieses Zusammenfügen von Aspekten aus einer monologischen Perspektive heraus, die aufgrund der Intensität der Bindung eine intime Berührung, eine tiefe Annäherung darstellt. Eben weil beide sich so gut kennen, muss vieles nicht erzählt werden, können die Assoziationen sich freier bewegen, können Fragen offen bleiben.

Was diese Bindung eigentlich ist, ihrem Wesen nach, klärt sich nicht. Sie erhält keinen Namen wie Freundschaft oder Beziehung, sie braucht ihn nicht. In dieser Bindung ist alles enthalten und einige inhärente Möglichkeiten kamen bereits zur Erfüllung. Daher durchzieht zunehmend der Wunsch der Ich-Erzählerin, die noch ungelebten Dinge zwischen ihr und Zott zuzulassen, die Geschichte. Ihre Rede der Nacht, dieser Gedankenrausch, ist Ausdruck davon.

Irgendwann bewegt sich ein Daumen, ein Anfang ist gemacht, ausgelöst durch eine wohlvertraute Geste. Die geheimen Zeichen dieser miteinander auf eine subtile Weise sehr intimen und sich ohne Worte verstehenden Menschen wirken immer noch.

Titelbild

Ulrike Kolb: Diese eine Nacht. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003.
189 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3608935932

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