Philosophie der Dekonstruktion

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 1991 erstmals erschienenen Essay "Passionen" rechnet sich Derrida zu den "Erben" des "großen Philosophen" Kant. Auch andernorts betonte er wiederholt seine Verbundenheit mit dem Aufklärer. Nun interpretiert Andrea Kern Derridas These, das Ideal des Wissens habe die Gestalt einer "unendlichen différance" als "Vertiefung" der Kantischen Erkenntnis. Der zufolge handelt es sich beim Ideal des Wissens nicht - wie von der vorkritischen Philosophie vielfach angenommen - um ein endliches, sondern um ein unendliches Ideal; es sei also, wie Kern formuliert, "für unser Verständnis dessen, was es heißt, den Standpunkt eines Menschen einzunehmen", konstitutiv. Hieraus habe Derrida die Konsequenz gezogen, dass die "Möglichkeit des Scheiterns" zum Wesen der Erfüllung des Ideals des Wissens gehört.

Kerns sehr genau argumentierende Ausführungen zu Derridas Aufnahme des Kantischen Gedankenguts zur Frage des "Wissens vom 'Standpunkt eines Menschen´" finden sich in dem von ihr gemeinsam mit Christoph Menke herausgegebenen Sammelband "Philosophie der Dekonstruktion". Die fünfzehn Beiträge des in die drei Teile "Philosophie und Normativität", "Wahrheit, Wissen, Verstehen" und "Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Subjektivität" gegliederten Buches sind zu einem Gutteil aus einer Tagung hervorgegangen, welche die Herausgeber im Jahre 2001 zusammen mit Georg W. Bertram an der Universität Potsdam durchgeführt haben.

Von einer Philosophie der Dekonstruktion zu sprechen, so erläutern Kern und Menke in der Einleitung, verstehe sich nicht von selbst, werde die Dekonstruktion aus den Reihen der Philosophen doch als "('bloß[e]´) Literaturtheorie, Literaturkritik oder Literatur" und daher als "nicht ernstzunehmend" abgetan.

Dekonstruktion ihrerseits hinterfrage das "Verhältnis zwischen Praxis und Reflexion" von Philosophie bzw. dasjenige zwischen "Praxis und Normativität". Derrida spreche von einer "Aporie zwischen Sagen und Tun, genauer zwischen normativem Urteil und praktischer Notwendigkeit", denn ein philosophischer Text müsse notwendigerweise "etwas tun, was er als misslungen beurteilt und also nicht tun sollte". Einen solchen Hinweis, der nicht als Kritik an einem prinzipiell behebbaren Mangel zu verstehen ist, könne die Dekonstruktion nur geben, indem sie selbst ein anderes "Bild der Praxis" fordere. Da dies eine der Aufgaben von Philosophie sei, konkretisiere sich die Frage, ob Dekonstruktion Philosophie sei, zur Frage, wie die Dekonstruktion durch ihre Befragung der Philosophie selbst Philosophie sei. Denn sie entwerfe, obgleich "in anderer Weise und mit anderem Inhalt", eine "Formbestimmung der Praxis".

Neben Andrea Kern befasst sich auch Christoph Menke mit Derridas Verhältnis zur Kritischen Philosophie Kants. Die Dekonstruktion nehme nicht etwa einen vorkritischen Standpunkt ein, sondern stelle Philosophie "von innen heraus" in Frage, indem sie die Aporien aufzeige, in die ihr Programm beim Versuch seiner Durchführung notwendig geraten müsse. Eben darum sei die Dekonstruktion ein "ultra-transzendental[es]" Unternehmen.

Gerhard Gamms Beitrag kommt ebenfalls nicht ganz ohne einen - wenn auch beiläufigen Bezug auf Kant - aus. Derridas "metaphysikkritischen Denken", so die überraschende These des Autors, zeichne sich dadurch aus, dass es nach Platon und Kant eine "dritte Rettung der Metaphysik" in Angriff nehme, allerdings "mit den zeitgemäßen Theoriemitteln der Dekonstruktion".

In weiteren Aufsätzen befassen sich Karin de Boer und Martin Stone mit der Dekonstruktion von Hegels Zweckbegriff beziehungsweise der dekonstruktiven Stimme in Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen". Georg W. Bertram erörtert "die Dekonstruktion der Norm und die Normen der Dekonstruktion", während sich Thorsten Bonacker zum normativen Gehalt liberaler Gemeinschaften äußert. Dass Dekonstruktion zwar (eine) Philosophie sein mag, ihr aber dennoch ein Moment von Literatur innewohnt, deutet der Titel von Alexander García Düttmanns Beitrag "Dichtung und Wahrheit der Dekonstruktion" an. Bernhard Wadenfells schließlich fragt nach dem, "was sich der Dekonstruktion entzieht" und findet es inmitten der Dekonstruktion selbst. Es sei nicht weniger das, was die Dekonstruktion in Gang setzt und in Gang hält.

R. L.

Titelbild

Andrea Kern / Christoph Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
345 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3518292072

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