Der Cyberspace als Identitätsbaukasten

Veronika Eisenrieders soziologische Annäherungen an Identität, Geschlecht und Körper im Cyberspace

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glaubt man Autorinnen wie Sherry Turkle oder Sadie Plant, dann scheint das Gender-Paradies nicht weit. Man findet es in den eigenen vier Wänden, unmittelbar hinter der Internetschnittstelle des PCs. In den letzten Jahren wurden allerdings in zunehmendem Maße auch skeptischere Stimmen laut. Deren Chor hat sich nun Veronika Eisenrieder zugesellt. In ihrem Buch "Von Enten, Vampiren und Marsmenschen. Von Männlein, Weiblein und dem 'Anderen'" werden Plants und Turkles phantastische Internet-Welten als Mythen entzaubert.

In einer "Art Mikrosoziologie des Cyberspace" untersucht die Autorin die Möglichkeiten der Konstruktion von Identität, Geschlecht und Körper in den "entkörperlichten Experimentierwelten des Cyberspace". Der Schwerpunkt ihrer Untersuchung liegt nicht auf den Usern, sondern auf den sogenannten Avataren, den virtuellen, figürlichen Repräsentationen der User. Theoretisch könnten die User zwar "jenseits von Geschlecht und Körper fluide von Identität zu Identität wechseln", die Frage sei allerdings, ob diese Möglichkeit auch tatsächlich genutzt werde und in den virtuellen Welten "fundamentale Veränderungen" der Geschlechter und ihrer Beziehungen zueinander 'gelebt' würden, oder ob die Netzwelten nur eine "neuerliche Modernisierung der alten Bipolarität des Symbolsystems" darstellten. Gegenstand ihrer Untersuchung ist also die Frage, wie Geschlecht in der virtuellen Welt dargestellt und verändert wird.

Ebenso wie postmoderne TheoretikerInnen negiert Eisenrieder die Annahme "vorgegebene[r], fixe[r] Identitäten" und geht stattdessen von "multipel[en], dynamisch fragmentiert[en] und konstruierbar[en]" "Identitätskonglomeraten" aus. So gebe es auch keine "fixierbaren" weiblichen und männlichen Identitäten; vielmehr verlange Geschlecht eine "permanente Konstruktions- und Repräsentationsarbeit".

Der Ort, an dem sie ihre Untersuchung der Konstruktionen von Identität, Geschlecht und Körper im Cyberspace durchführt, ist das Habitat WorldsAway, eine nicht nur textlich, sondern graphisch gestaltete virtuelle Welt einer ebenfalls virtuellen Gemeinschaft, die sich mittels Gesprächen und durch gegenseitige Überzeugungsarbeit selbst konstituiert. Bei WorldsAway handelt es sich mit etwa 50.000 accounts um die bislang größte virtuelle Gemeinschaft. In der Regel sind zwischen 150 und 500 User gleichzeitig inworld.

Die Avatare von WorldsAway, so schwärmt die Autorin, zeichnen sich durch "ausgeprägt mimetische und gestische Fähigkeiten" aus. Einem Außenstehenden mögen sie allerdings eher sehr bescheiden vorkommen. Beschränkt sich das mimische Repertoire der Avatare doch auf gerade mal vier Ausdrucksweisen: "normal", "happy", "sad" und "mad". Auch um den Variantenreichtum ihrer Gesten ist es nicht besser bestellt.

Im "Identitätsbaukasten" Cyberspace bietet sich den Usern zwar die Möglichkeit, für die 'individuelle Identität' ihrer Avatare, "fragmentarische Persönlichkeiten zu konstruieren und zu leben", doch fällt Eisenrieders Antwort auf die Frage, ob die virtuellen Welten tatsächlich als "Experimentierbühne" für das postmoderne Selbst und als "Ressource zum Aufbau einer multiplen und vielgestaltigen Identität" genutzt werde, zwiespältig aus. Die Möglichkeit der Speicherung sämtlicher Interaktion in WorldsAway eröffne zwar neue Formen der Selbstkontrolle und -darstellung. Doch sei das Netz-Selbst aufgrund seiner prinzipiellen Unsicherheit "hochgradig reflexiv zu denken".

Scheint die Entwicklung von Identität in WorldsAway weithin offen gestaltbar, so sind einem ihrer zentralen Momente von vorneherein enge Grenzen gesetzt: "Um die Welt betreten zu können, muß man sich entweder für einen weiblichen oder männlichen Körper entscheiden." Die User stört das allerdings keineswegs. Im Gegenteil, gelegentlich auftretende Figuren, deren Selbstbeschreibung trotz des eindeutigen Körpers "neutral ausfällt", werden ständig nach ihrem Geschlecht gefragt. Es nicht eindeutig und erkennbar "anzuzeigen" wird als Unhöflichkeit betrachtet. Ja es gilt sogar als Betrug, nicht das "Realworld-Geschlecht" zu benutzen. Hingegen wird, wie Eisenrieder festhält, den ebenfalls "signifikante[n] Merkmale[n]" Rasse und Klasse kein derart "reges Interesse" entgegengebracht.

Eisenrieders ernüchterndes Fazit lautet, dass in WorldsAway alles andere als die von Turkle und Plant erdachten genderparadiesischen Zustände herrschen. Nicht etwa die Demontage herrschender Geschlechterklischees wird vorangetrieben, der virtuelle Umgang mit der Kategorie Geschlecht reorganisiert geradezu die "gängigen Geschlechtsmodelle", während sie in der real world "am 'Bröckeln' sind", so dass die "Cyberbodies" beispielsweise fast immer "hypermaskulin oder -feminin" konzipiert werden. Selbst beim genderswapping, dem virtuellen Geschlechtertausch, kann keine Rede davon sein, dass die Geschlechtsrollen reflektiert oder gar kritisch in Frage gestellt werden.

All das trifft sicher zu. Eisenrieders Schlussfolgerung, dass es "hier und jetzt anscheinend nicht möglich" sei, Geschlecht "außerhalb der binären Kategorie" zu denken, dass die Menschen offenbar "zwingend" einer "zweigeschlechtlichen Logik" folgen müssten, erscheint dennoch verfehlt. Widersprechen ihr doch nicht nur zahlreiche Belege aus der Sience-Fiction-Literatur, man denke nur an Octavia Butlers "Xenogenesis"-Trilogie. Auch Eisenrieder selbst widerspricht an anderer Stelle ihrem Befund., so etwa durch ihre Feststellung, dass Geschlecht "theoretisch keine statische Kategorie" sei und "schon gar nicht dichotom" sein müsse, sondern vielmehr ein Produkt sozialer Konstruktionen sei, das "theoretisch aufgelöst oder 'weggedacht' werden könnte"; oder auch mit ihrer Beobachtung, dass nicht alle virtuellen Welten so konservativ gestaltet sind wie WorldsAway. WolfMoo etwa bietet "viele zahlreiche Geschlechter, z. B. 'neuter, female, male, either, splat, plural oder 2nd'". Doch auch dort unterwerfen sich die meisten User der realweltlichen Dichotomie.

Hat man sich beim erstmaligen Betreten von WorldsAway für eines der beiden angebotenen Geschlechter entschieden, so kann - respektive muss - man wählen, ob der Körper "stocky", "medium build" oder "muscular" sein soll. Während des weiteren Aufenthaltes in der Cyberwelt kann man die Farbe der Kleidung wechseln (diese selbst allerdings nicht, ebenso wenig wie man sich entkleiden kann), man kann unterschiedliche Körperaccessoires wie Hüte und ähnliches an- und ablegen, ja sogar verschiedene Köpfe auf- und absetzen. Die Ausgestaltung des 'Körpers' gehört zu den "Hauptbeschäftigungen" der Avatare und spielt in den Diskursen der virtuellen Welt eine "zentrale Rolle". Dabei ist der Zwang zu 'körperlicher Perfektion' noch weit stärker ausgeprägt als im real life und gilt gleichermaßen für beide Geschlechter, hat man es in der Virtualität doch "vollkommen selbst in der Hand", den Schönheitsnormen zu entsprechen.

Eisenrieders Ausführungen zum virtuellen Körpers fallen weniger überzeugend aus als diejenigen zum virtuellen Geschlecht. So etwa, wenn sie ihre Behauptung, dass der "reale Körper von virtuellem Erleben sehr wohl beeinflusst" werde, mit einer Anekdote belegen will, der zufolge ein Mitspieler, der sich in WorldsAway einen virtuellen Rausch angetrunken hatte, am nächsten Morgen im real life eine Verabredung wegen seines Katers abgesagt habe. Eisenrieders Annahme, dass es "einen Körper im digitalen Netz" gebe, ist ebenfalls mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn dass in der virtuellen Welt eine "'böse' Bemerkung" durch ein *g* "abgeschwächt" wird oder dadurch, dass "der Avatar ein grinsendes Gesicht macht", ist kein schlüssiger Beleg dafür, dass im Cyberspace der "subjektiv gemeinte Sinn" einer Mitteilung erst mithilfe der Körpersprache verstanden werden kann, oder gar dafür, dass die "Anwesenheit eines Körpers nötig" ist, "um im virtuellen Raum derart agieren zu können". Allenfalls bedarf es eines virtuellen Körpers, aber die (virtuelle) Repräsentation des Körpers ist eben nicht der Körper. Da hilft weder der Rekurs auf Plessners Leib/Körper-Unterscheidung, noch der Verweis auf die berühmt gewordenen virtuellen Vergewaltigungen durch Mr. Bungle in LambdaMOO. In den rein textbasierten MUDs ist nicht einmal ein virtueller Körper nötig, um Missverständnisse nach Art von Eisenrieders Beispiel zu vermeiden, um Körpersprache zu repräsentieren oder um MitspielerInnen, bzw. deren Netz-Repräsentationen virtuell zu vergewaltigen.

Zutreffend mag allerdings Eisenrieders Interpretation des virtuellen "Beharren[s] auf körperlicher Realität" im Sinne einer "Gegenbewegung zu Entsinnlichung der gesellschaftlichen Realität" sein. "Die vielgelobte revolutionäre Möglichkeit der Körperlosigkeit" wird von den Usern jedenfalls nicht - oder doch zumindest kaum - wahrgenommen.

Titelbild

Veronika Eisenrieder: Von Enten, Vampiren und Marsmenschen. Von Männlein, Weiblein und dem "Anderen". Soziologische Annäherung an Identität, Geschlecht und Körper in den Weiten des Cyberspace.
Herbert Utz Verlag, München 2003.
239 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3831601968

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