Schopenhauer-Bernhard-Dreierkette

Stephan Atzert untersucht das Verhältnis von Literatur und Philosophie

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Dissertation von Stephan Atzert läßt sich das Wort Wendelin Schmidt-Denglers stellen, wonach die Philosophie die Patenschaft über das Werk Bernhards übernommen habe. Das ist auch das Motto von Martin Hubers Arbeit über "Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm: Zur Schopenhauer-Aufnahme im Werk Thomas Bernhards". Der zweite Anknüpfungspunkt für Atzert ist die frühere Arbeit von Gerald Jurdzinski über "Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers". Mit beiden Veröffentlichungen setzt sich Atzert kritisch auseinander, um eine dritte, weiterentwickelte Position einzunehmen.

Damit ergibt sich ein dreifacher Rahmen, der je nach Abstraktionsgrad der Fragestellung unterschiedliche Schwerpunkte fokussiert: Es geht grundsätzlich um das Verhältnis der beiden Diskursformationen Philosophie und Literatur; und es geht um die Bedeutung der Philosophie und Schopenhauers für das Werk Bernhards. Auf alle drei Bereiche läßt sich Schmidt-Denglers Metapher von der Patenschaft übertragen. Sie muß jedoch jeweils spezifisch entmetaphorisiert und für den literaturwissenschaftlichen Ansatz produktiv gemacht werden.

Die Anzahl jener Publikationen, die für Bernhards Werk einen Paten anführen, wächst beständig. Mittlerweile ist nahezu jeder Philosoph aus Bernhards Kabinett mit einer Monographie, zumindest aber mit einem Aufsatz abgedeckt worden: Kierkegaard, Nietzsche, Wittgenstein, Montaigne, Pascal und schließlich auch Schopenhauer. Daß sich zur Beziehung Bernhard-Schopenhauer mit Atzerts Arbeit jetzt eine Reihe herausgebildet hat, rechtfertigt sich - wie man bei allen drei Autoren nachlesen kann - allein schon durch die unübertroffene Häufigkeit der Nennung Schopenhauers bei Bernhard. Darüber hinaus aber liegt damit auch ein Musterfall von philosophischer Patenschaft vor, der Rückschlüsse auf das Verhältnis von Literatur und Philosophie erlaubt.

Atzert lehnt Hubers Differenzierung in Litereme und Philosopheme ab und folgt statt dessen der Argumentation von Gernot Weiß, der bei Bernhard von einer "Einebnung" der Gattungsunterschiede zwischen beiden Diskursen (im Sinne von Habermas' Derrida-Diskussion) ausgeht. Es ist daher zu fragen, ob Literatur und Philosophie sich wechselseitig interpretieren können. In diesem Sinne würde Schopenhauer zum Interpretament für Bernhard werden. Es ist aber auch zu beachten, wie beide Diskurse jeweils komplementär das Problem der Unsagbarkeit des jeweils anderen Diskurses bearbeiten oder sogar lösen - gerade angesichts der Unaussprechlichkeit menschlicher Extremsituationen, z.B. des Leidens und der Isolation in Familie und Gesellschaft, die Bernhards Geistesmenschen durchleben.

Atzert führt richtig ins Feld, daß die Bedeutung der Philosophie für Bernhards Werk nur angemessen erfaßt werden kann, wenn seine Zitationstechnik zwischen bloßem name-dropping und der Thematisierung von Philosophemen in Rechnung gestellt wird. Mit exemplarischem Bezug auf Schopenhauer führt Atzert den Begriff "Verwendung" ein, mit dem er das komplexe Verhältnis von Aneigung und Veränderung Schopenhauers durch Bernhard bezeichnet, allerdings nicht weiter terminologisch fundiert. Er greift hier auf den Schopenhauerschen und Bernhardschen Begriff des "Spaßphilosophen" zurück und entwickelt daraus die Idee der doppelten Parodie: Schopenhauer wird parodiert, dabei aber so zitiert, daß jene verspottet werden, "die Schopenhauer nicht kennen".

Damit wird deutlich, welche konkrete Bedeutung Atzert Schopenhauer für das Werk Bernhards zuspricht. Atzert geht es um die "philosophische Komponente der von Bernhard verwendeten textuellen Signifikate". Damit hebt er sich von Jurdzinski ab, dem er vorwirft, er setze Bernhards literarische Perspektiven aus Schopenhauerschen Versatzstücken zusammen; er stellt sich aber auch in Gegensatz zu Huber, der "den bei Bernhard verwendeten Begriffen den philosophischen Gebrauchswert" abspreche. Atzert geht also von einer profunden Schopenhauer-Rezeption (einer "genaue[n] Kenntnis") Bernhards aus. Um jedoch die literarische Instrumentalisierung der Philosophie (so würde ich Atzerts Verwendungsbegriff präzisieren) nicht auf inhaltliche Affinitäten beschränken zu müssen, fügt Atzert "die Orientierung am philosophiegeschichtlichen Hintergrund" hinzu. Schopenhauer, unter Brücksichtigung der jeweiligen Zitatform, diene Bernhard dazu, eine vernunft- und subjektkritische Position literarisch zu entfalten, wie sie die Moderne charakterisiert.

An den vier letzten großen Romanen Bernhards, an "Auslöschung", "Beton", "Untergeher" und "Alte Meister", zeigt Atzert, wie die Schopenhauersche Philosophie jeweils in das Zentrum der Subjektthematik führt, die an den Helden Murau, Rudolf, Wertheimer/Gould und Reger dargestellt wird. Dabei spielen insbesondere die Selbsterfahrung und die individuelle Ursachenforschung für die persönliche Situation der Hauptfiguren eine entscheidende Rolle. Mit Schopenhauer liefert Atzert somit eine auch philosophisch fundierte Rekonstruktion der Sprach- und Erkenntniskrisen der Hauptfiguren, der Bedeutung von Kunst, Literatur und Philosophie gerade angesichts des Todes, der Problematik von Genialität und Selbstfindung angesichts widriger familiärer und sozialer Umstände.

Der interpretatorische Ertrag von Atzerts Arbeit ist unbestritten. Unbestritten ist auch, daß Atzert die Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Philosophie über inhaltliche Entsprechungen, Differenzierungen bis hin zur Instrumentalisierung voranbringt, gerade auch im Hinblick auf die Schopenhauer-Bernhard-Dreierkette.

Gleichzeitig läßt sich aber - mit Blick auf Atzerts Dissertation und auf eine ganze Reihe vergleichbarer Arbeiten - die These erhärten, daß für eine weitergehende Klärung der philosophischen Intertextualität bei einem Werk wie dem Bernhards die spezifischen Referenzrahmen immer in die abstrakten und allgemeinen Fragen eingebettet sein müssen. Ein Begriff, wie er im vorliegenden Fall im Untertitel genannt wird - die "literarische Verwendung von Philosophie" -, kann zwar an einem Beispiel wie dem Schopenhauers durchaus brauchbar konzipiert werden; für eine grundlegende Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Literatur am Beispiel Bernhards wird es aber künftig notwendig sein, Intertextualität werk- und diskursübergreifend darzustellen. Isolierte Bearbeitungen ergeben nur einen Philosophenreigen, der das literarische name-dropping auf literaturwissenschaftlichem Niveau wiederholt und Verknüpfung, Anschlußfähigkeit und intertextueller Ertrag auf einen spezifischen Referenzrahmen beschränkt.

Titelbild

Gerald Jurdzinski: Leiden an der "Natur". Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main/ Wien 1984.
203 Seiten,
ISBN-10: 3820451811

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Martin Huber: Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm. Zur Schopenhauer-Aufnahme im Werk Thomas Bernhards.
Schünemann, Wien 1992.
208 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3851140869

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Titelbild

Stephan Atzert: Schopenhauer und Thomas Bernhard. Die kritische Verwendung der Philosophie Schopenhauers in Bernhards Prosa.
Rombach Verlag, Freiburg 1999.
ca. 220, 25,50 EUR.
ISBN-10: 379309202X

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