Fritz Stern versucht, das feine Schweigen zu brechen

Zum diesjährigen Friedenspreisträger Fritz Stern

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daß es gerade in einem unmenschlichen Zeitalter notwendig sei, dem Phänomen des Menschlichen nachzuspüren, ist eine Überzeugung, die dem amerikanischen Historikers Fritz Stern in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels einbrachte: immerhin eine der höchsten geistigen Dekorierungen, die die Bundesrepublik zu vergeben hat. Und tatsächlich hat sich Fritz Stern, indem er das "Menschliche" noch in jenen Kapiteln der jüngeren deutschen Geschichte aufzufinden versucht, die an Unmenschlichkeit nicht zu übertreffen sind, sich um den Ruf Deutschlands verdient gemacht.

Gegen die Dämonisierung der deutschen Geschichte als Schauplatz des absoluten Bösen, wie sie schon von Hannah Arendt kritisiert worden war, setzte Stern bereits früh auf eine Verschiebung der Perspektive. Der Historiker wollte den Nationalsozialismus nicht nur verurteilen, sondern er wollte verstehen, wie es zu dessen Erfolg und damit zur deutschen Katastrophe gekommen war. Bereits Ende der 50er Jahre bescherte dieser Wille der Geschichtswissenschaft die wegweisende Studie über "The Politics of Cultural Despair", die heutzutage zwar etwas einfach gestrickt und hausbacken wirkt, die jedoch den immer noch vielbeschworenen Begriff des "Kulturpessimismus" als Forschungsgegenstand etablierte. Auf der weitgefächerten Analyse der nationalen Ideologien in Deutschland baute schließlich auch sein vieldiskutierter Essay über den "Nationalsozialismus als Versuchung" auf, in dem Stern den Erfolg Hitlers aus dem historischen Kontext und der psychischen Befindlichkeit der Deutschen heraus erklärte.

Wenn man im angelsächsischen Sprachraum inzwischen Verständnis für Deutschland und die deutsche Geschichte aufbringt, so ist das nicht zuletzt Fritz Stern zu verdanken. Möglich war die versöhnliche Wirkung, die von seinem versöhnlichen Denken ausging, wohl allein deshalb, weil Stern selbst jenem kulturellen Feld entstammte, das Hitler dauerhaft zerstört hatte. Denn mit Fritz Stern ehrt der Börsenverein einen Autor jüdischer Herkunft, der in seiner Jugend aus Deutschland vertrieben wurde.

Fritz Stern wuchs, am 2. Februar 1926 in Breslau geboren, in ein stark assimiliertes jüdisches Bildungsbürgertum hinein, das zunehmend naturwissenschaftlich geprägt war. So wurde Stern, um seine Zukunftschancen zu erhöhen, getauft, wobei der ebenfalls christianisierte jüdische Nobelpreisträger und Erfinder des Gaskriegs von 1915, Fritz Haber, sein Pate war. Da dies kein einfaches Erbe ist, wurde die Geschichte und das Schicksal des deutschen Judentums für Stern zum Lebensthema. Seine ausgewogene Darstellung der "umstrittenen historischen Präsenz der Juden" in der deutschen Politik und Kultur hat der Stiftungsrat für den Friedenspreis in seiner Begründung denn auch ausdrücklich erwähnt. Neben zahlreichen Essays über bedeutende deutsche Juden zählt dazu vor allem die zum Standardwerk avancierte und jetzt bei Rowohlt neu aufgelegte Doppelbiographie von Bismarck und dessen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder zu den großen wissenschaftlichen Leistungen Sterns.

Freilich kann diese Begründung und Legitimation nicht darüber hinweg täuschen, daß es sich bei Sterns Ehrung vor allem um eine politische, ja um eine politisch korrekte Entscheidung handelt. Bei der Wahl Fritz Sterns ging es offenbar um eine Wiedergutmachung des Eklats, den Martin Walser mit seiner letztjährigen Friedenspreisrede ausgelöst hat. Denn partizipierte Walsers nur scheinbar unpolitischer Gedankengang nicht gerade an jenem anti-westlichen und anti-rationalen Kulturpessimismus, vor dem Stern seit jeher so wortreich gewarnt hat? Stern verstand diesen Wink und hat in seiner am 16. Oktober in der Paulskirche gehaltenen, jedoch kaum beachteten Dankesrede so unmißverständlich darauf reagiert, daß die Stelle verdient, ausführlich wiedergegeben zu werden:

"Die Verbrechen sind in allgemeiner Erinnerung; die Frage, 'wie war es möglich', wird nicht verjähren, und jegliches Ausweichen in 'Normalität' ist vergeblich. Der entfesselte Sadismus, mit dem das europäische Judentum vernichtet wurde, wird mit Recht als Zivilisationsbruch bezeichnet. Das geschah in der langen Nacht der organisierten Bestialität. Ich habe oft und überall gesagt, dass jegliche Instrumentalisierung oder Trivialisierung der Vernichtung der Juden, jegliches Vergessen der Millionen anderer Opfer sich an den Opfern selbst vergeht. Man ehrt die Opfer eher mit dem Versuch, die Welt, der sie entrissen wurden und die meist mit ihnen zu Grunde ging, in historischer Forschung zu rekonstruieren und so im kollektiven Gedächtnis aufzuheben - und gerade dieser Aufgabe wird im heutigen Deutschland in bemerkenswerter Weise nachgegangen. Unvermeidlich aber, dass Auschwitz für alle Zeiten als ein Ort deutscher Unmenschlichkeit, des unvorstellbar Bösen bleiben wird."

In der für Stern ungewöhnlichen Deutlichkeit der Formulierung ist diese Passage fraglos als Antwort auf Martin Walser zu verstehen. Zugleich jedoch ist Fritz Stern der Auffassung, daß man dem Anspruch und der Verantwortung der Vergangenheit in Deutschland durchaus gerecht werde. Letztlich ist es dieser positive, versöhnliche Zug seines Charakters, über den jene Verständigung sich vollzieht, die trotz aller Bemühungen zwischen Walser und Bubis bis zum Schluß nicht zustande gekommen ist.

Die ungewöhnliche Fähigkeit zur inneren Aussöhnung ist in Sterns Biographie angelegt. 1938 flüchtete er mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten und studierte deutsche Geschichte an der Columbia Universität, wo er seit 1963 ordentlicher Professor ist. Wie die anderen bedeutenden amerikanischen Historiker Gordon Craig und Carl Schorske ist Fritz Stern über seinen Lehrer, den Emigranten Hajo Holborn, ein Meinecke-Schüler und steht insofern in einer bestimmten Tradition deutscher Geschichtsschreibung. Gegen die materialistische Deutung der Vergangenheit beharrt er auf der psychologischen Erkenntnis des Gewesenen - eine Überzeugung, die Stern immer wieder zur Methode der Biografie greifen läßt. Seine biographischen Erkundungen haben ihn unter anderem gelehrt, daß unser scheinbar so rationales Jahrhundert eine "beängstigende Abfolge von historischen Entscheidungen erlebt" hat, die "mit rücksichtsloser Unbesonnenheit gefällt wurden". Das aber habe nicht notwendig so sein müssen. Denn die wichtigste historische Prämisse Sterns ist es, daß Geschichte nicht vorhersehbar und vorbestimmt ist, ja "daß in jeder Gegenwart viele Möglichkeiten vorhanden sind". Trotzt allen Verständnisses, das Stern für die historische "Versuchung des Nationalsozialismus" aufbringt: der Triumph der Nazis war für ihn durchaus vermeidbar. Gegen die postmoderne Vorstellung vom Tod des Subjekts pocht Fritz Stern in diesem Sinn ausdrücklich auf die persönliche Verantwortung, die jeder für die Geschichte hat. Er selbst wird dieser Verantwortung gerecht, indem er immer wieder unmittelbar in die Politik eingreift - zumal in die deutsche.

In Deutschland seit Jahrzehnten als Gastprofessor tätig hat Fritz Stern 1987 als erster ausländischer Staatsbürger im deutschen Bundestag die Festrede zum 17. Juni gehalten, wobei er alle Erwartungen auf eine Wiedervereinigungs-Rhetorik unterlief: der Arbeiteraufstand 1953 habe allein die bürgerlichen Freiheitsrechte zum Ziel gehabt. Gleichwohl überzeugte er 1990 Margaret Thatcher, daß man vor einem wiedererstarkenden Deutschland keine Angst zu haben brauche. Daraus spricht ein Vertrauen in die endgültige Westbindung unserer Republik, für die er selbst die Formel von der "zweiten Chance" fand. 1993 schließlich fungierte er für ein Jahr als Berater des amerikanischen Botschafters in Bonn, Richard Holbrooke.

Von einer "zweiten Chance" ist in Sterns neuem Buch, "Das feine Schweigen", nicht mehr die Rede. Fünfzig Jahre nach dem millionenfachen Morden müsse nicht das Andenken an die Opfer aufhören, betont er ein weiteres Mal, sondern allein jenes passive Schweigen, das man in Deutschland immer noch praktiziere und das sich auf einen eklatanten Mangel der Deutschen an Zivilcourage zurückführen lasse. Die "deutsche Neigung, Kritik als Nestbeschmutzung zu begreifen", stecke dahinter und erschwere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis heute maßgeblich, mahnt Stern und er untermauert seine These von der verheerenden Wirkung des "feinen Schweigens" mit der Feststellung, daß "die Passivität, das Schweigen der Anständigen für den Erfolg des Nationalsozialismus mindestens ebenso wichtig waren wie das Brüllen der Begeisterten". Dieses Schweigen ist jedoch nur ein loses Band, das die einzelnen, zu unterschiedlichen Anläßen verfaßten Vorträge des Buches etwas mühevoll zusammenhält. Da belehrt Stern etwa über Jacob Burckhardt und Max Planck, über das Phänomen des Todes in der Weimarer Republik und über "Die erzwungene Verlogenheit" - eine umfassende Abrechnung des Amerikaners mit dem Sowjetkommunismus. Das ist alles, wenn schon nicht gerade anspruchsvoll, so doch durchaus unterhaltsam und kurzweilig.

Stern ist seinem biographisch-psychologischen Zugang zur Geschichte jedoch nicht nur treu geblieben, sondern verteidigt seine antiquierte Methode selbstbewußt: "Das Spezialistentum ist noch mehr gewachsen, und die meisten Historiker haben sich vom großen Publikum abgewendet, wie auch das Publikum von der Geschichte." Verantwortlich für diese Entwicklung macht Stern allemal die Postmoderne, die sich bezeichnenderweise an Nietzsche und dessem tief-menschlichen Gespür für die Historie mit schwer verständlichen Theorien vergriffen habe. In gewisser Hinsicht wird man Stern Recht geben müssen. Vom anfänglichen Elan des "cross the border, close the gap" (Leslie Fiedler) ist in den Wissenschaften nichts übrig geblieben, im Gegenteil: der Graben zu den nicht Eingeweihten ist mit dem Poststrukturalismus immer größer geworden.

Fritz Stern wird das nicht ändern. Sein Eintreten für den zivilen Widerstand auch in den kapitalistischen Demokratien, für das besonnene Aufbegehren gegen jegliche Form von Unterdrückung, verdient gleichwohl Beachtung. Denn die Tradition liberaler Utopie, wie sie sich aus den freiheitlich-sozialen Träumen des untergegangenen deutsch-jüdischen Bürgertums herleitet, ist hierzulande ein kostbares Gut.
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Titelbild

Fritz Stern: Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
317 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 340642046X

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Titelbild

Fritz Stern: Das feine Schweigen. Historische Essays.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
187 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 340645674X

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Titelbild

Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
860 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 349960907X

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