Vernünftigsprechung von Übeln

In Darmstadt erhielt Arnold Stadler den Georg-Büchner-Preis

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Leserin, die mich in der Nacht zum Bahnhof fuhr, hatte auch noch nichts von Arnold Stadler gelesen, aber sie kenne jemanden, der etwas gelesen habe. Meine Sitznachbarin im Darmstäfter Staatstheater sagte über die Laudatio von Peter Hamm, sie sei weitaus besser als das Buch, das sie von Stadler gelesen habe. Seither kenne ich auch jemanden, der etwas von Stadler kennt, und vielleicht ergibt sich auf diese Weise allmählich ein Eindruck von dem großen Unbekannten, den die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet hat.

In Darmstadt wurde Arnold Stadler der Georg-Büchner-Preis zuerkannt, und Peter Hamm kam die im Grunde dankbare Aufgabe zu, einen Unbekannten vorzustellen und die Weichen für seine Rezeption zu stellen. Ziel seiner Laudatio war es wohl, bestimmte Missverständnisse, die sich in der Rezeption ergeben könnten, von vornherein auszuschließen: das Missverständnis etwa, dass Stadler ein bäurischer Heimatdichter sei, der unfreiwillig Komisches produziere; der aus Versatzstücken durch Glück zur großen Form finde; der aus dem Gefühl der Unterlegenheit mitleidheischend Kapital schlage; der uns Weltabgewandtheit als rustikalen Exotismus verkaufe.

Durch einen Artikel im 'Spiegel' (vom 1.8.1994) hatte zuerst Martin Walser auf den bis dato weitgehend unbekannten Schriftsteller und seine Romantrilogie - "Ich war einmal" (1989), "Feuerland" (1992), "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" (1994) - aufmerksam gemacht und eine breitere Rezeption angeregt. Walsers Klassifikation als "Heimatromane" legt Stadlers Bücher seither auf eine autobiographische Lesart fest, die der Autor nicht intendiert hat, die er aber in Kauf nimmt und nehmen muß - die, pardon, Handlung seiner Romane ist eben dort situiert, wo Stadler Kindheit und Jugend (und mittlerweile das halbe Leben) verbracht hat. Im Rückgriff auf tradiertes Erzählen, gebrochen durch bittere Komik, melancholische Heiterkeit, bösen Ernst und entwaffnende Direktheit, wie man sie aus beschaulicher Heimatdichtung weniger kennt, beschreibt der Erzähler sein Bild von der Realität in der Gegend um Meßkirch - Heideggers Meßkirch, zugleich auch die Gegend Mengeles, wo noch immer Erntemaschinen im Einsatz sind, die den Namen Mengele tragen.

Eindrucksvoll war das Eingangsbild seiner Dankesrede, bevor Stadler zu "Büchners Fragen" kam: "Ich habe die Erde auf meinem Nachttisch gesehen." Es schildert einen Erzähler, der vom Bett aus auf einen Globus schauen kann, auf dem Globus irgendwo das Haus des Dichters erblickt, darin das Bett des Dichters und - wiederum - den Globus, ein Elendsbild der Erde, die die traurige Aktualität Büchners bezeuge. Büchners Gegenwart sei einleuchtend wie die "Begegnung von Rose und Schwert". Schon sein erstes Drama trage den Tod im Titel, unter "traurigen Bedingungen" habe Büchner "Ich" gesagt, er habe in einem Land gelebt, das durch Menschenhandel groß geworden sei. Der Schmerz sei ihm gewiß gewesen: "Es blutet, also bin ich". Sprache sei ihm Seziermesser und Schmerzmittel zugleich gewesen: "Jesus will retten, Büchner verstehen - beide erbarmen sich". Es gebe eine Liebe, "die selbst die Hoffnung überlebt".

Arnold Stadlers Programm ist es, eine Heimat zu beschreiben, die weniger wird, immer weiter zurückgedrängt wird, kaum noch existiert - eine der Paradoxa, die Peter Hamm in seiner Preisrede als kalkuliert darzustellen wußte: "Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich soviel Hoffnung hatte". Hamm bemühte den großen Robert Walser und sein Prinzip der "Vernünftigsprechung von Übeln", um Stadler zu charakterisieren: "Dass du gefressen wirst, offenbart, dass es etwas Höheres gibt als dich."

Stadlers Entgegnung, eine Ansammlung von Bildern aus der bereits anekdotisch gewordenen eigenen Vita, war ein Abgesang auf das Jahrhundert, auf die Welt als Mottenfraß. Er stellte sich unter anderem die Frage, ob der Kunstschmied noch lebe, der für das Tor von Auschwitz "Arbeit macht frei" und für Buchenwald "Jedem das Seine" geschmiedet habe. Das 20. Jahrhundert sei ein "gescheitertes Jahrhundert": Wo solle da, zwischen IAA und Bevölkerungsexplosion, noch Heimat sein?

Mit Büchner plädierte Stadler für ein Erbarmen, das mehr sei als Mitleid. Er trug seine Blütenlese im Predigerton vor, mit Pathos und Mut zum Unzeitgemäßen. Das starke Bedürfnis, etwas mitzuteilen, auf den Weg zu geben, etwas zu bewirken, wurde noch einmal spürbar. Ein bisschen wehte uns der Geist von 68 an, die Rede hatte appellativen Charakter; schon dieser Gestus allein war sympathisch und überzeugend.

Titelbild

Arnold Stadler: Ein hinreißender Schrotthändler. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
237 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3770149599

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