Minima Goetheiana oder die philosophische Triftigkeit eines Beispiels

Hans Blumenbergs herausragendes Buch über den alten Goethe als Jedermann

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über keinen Dichter haben deutsche Philosophen so häufig nachgedacht wie über Goethe. Allein im 20. Jahrhundert legten etwa Georg Simmel, Walter Benjamin oder Ernst Cassirer größere philosophische Studien über ihn vor - an einem Goethe-Buch arbeitete auch Hans Blumenberg. Das fragmentarische, aus zahlreichen Einzeltexten bestehende Manuskript, das sich im Nachlaß des 1996 verstorbenen Philosophen fand, ist unter dem Titel "Goethe zum Beispiel" erschienen. Obgleich der Titel thematische Beliebigkeit suggeriert, kann davon bei Blumenberg nicht die Rede sein. Zahlreiche kleinere Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte weisen ihn als profunden Goethe-Kenner aus. Und in seinen Hauptwerken wie der "Arbeit am Mythos" und "Die Lesbarkeit der Welt" spielt Goethe ohnehin eine bedeutende, wenn nicht herausragende Rolle. Dennoch muß der Leser nicht fürchten, er bekomme mit dem Band anläßlich von Goethes Geburtstag eine Kompilation vorgesetzt, wie es bei dem neuesten Buch von Hans Mayer der Fall ist. Die meisten Texte des Bandes sind bislang unveröffentlicht und stehen zudem in einem starken inneren Zusammenhang. Der allerdings erschließt sich nicht unmittelbar.

Wenn die Glossen, Skizzen und Miniaturen, so kostbar sie als einzelne auch sein mögen, sich in keinen größeren Kontext zu fügen scheinen, gibt es dafür methodisch ein Vorbild bei Blumenberg selbst. Stellte der versierte Zettelkasten-Arbeiter mit "Die Sorge geht über den Fluß" doch bereits eine Sammlung von Nebensächlichkeiten zusammen, bei denen der geistreiche Stil des Autors dasjenige, in das er eindringt, erst hervorzubringen pflegt. Ebenso ist dieses Goethe-Buch nicht allein tiefsinnig, sondern in einem seltenen Sinn und Gegensatz dazu auch tiefgedacht.

Seinem Gegenstand nähert sich Blumenberg zumeist von der Seite, wählt den Umweg über Autoren wie Lichtenberg, Fontane, Heinrich Heine, Thomas Mann. Oder über den Homer-Herausgeber Friedrich August Wolf, der Goethe kurz vor seinem Tod noch einmal besuchte. Der ärztliche Bericht von Wolfs Dahinscheiden, mit dem Blumenberg in diesem Fall seine Überlegungen beginnt, gab auch Goethe zu denken. An Wolf, dem großen Philologen, war ihm stets die "Widersprechungslust" aufgefallen und aufgestoßen, eine Eigenart, die offensichtlich auch dessen Tod verursacht hatte: Denn der schwerkranke Wolf hatte den flehentlichen Ratschlägen seines Arztes bis zum Schluß systematisch zuwider gehandelt. Obwohl Goethe den so gern widersprechenden Wolf einst über das Datum seines Geburtstags belogen hat, aus Angst, der Freund würde an dem entsprechenden Tag womöglich das Faktum seiner Geburt leugnen, kann Blumenberg zeigen, daß Wolf für Goethe eine Gegenfigur gewesen ist, die ihn, indem sie ihn zur staunenden Anerkennung des Anderen und Befremdlichen zwang, zugleich zur stillen, unausgesprochenen Erkenntnis seiner selbst befähigte. Ihre Evidenz hat diese von Blumenberg nur behauptete Selbsterkenntis dabei in dem Umstand, daß sie unversehens Erkenntnis des Lesers geworden ist.

Vor Blumenbergs Blick wird die schützende Hülle, mit der Goethe sich umgab, auf Dauer so dünn, daß man meint, durch die Haut hindurch ins Innere des Monuments schauen zu können. Hier jedoch beanspruchen nicht die glänzenden Stellen, sondern eher die im allgemeineren Sinn menschlichen Seiten Goethes die Aufmerksamkeit Blumenbergs. Goethe wird ihm "zum Beispiel" für Probleme, die, wie es heißt, wir alle mit uns hätten: und das sind vor allem Probleme des Selbstbildes und des Selbstbetrugs. Letztlich jedoch spricht Blumenberg an diesen Stellen hauptsächlich von sich selbst. "Goethe zum Beispiel" ist ein Werk über das Altern und den Tod und in diesem Sinn ein entschiedenes Spätwerk. Immer wieder kreisen die Gedanken Blumenbergs aus verschiedenen Blickwinkeln um dieselben Episoden aus Goethes letzten Lebensjahren: um das Ulrike-Drama von 1823 und den scheinbar stoisch erlebten Tod des Sohnes von 1830. Eckermann und sein Beitrag zur Vollendung des Werks, die Freundschaft mit Zelter, das Verhältnis zu Schopenhauer - diese Figuren geben den Hintergrund ab für das Portrait vom alternden Goethe, das Blumenberg entwirft, um unsere Sicht auf Goethe grundsätzlich zu verändern. Denn: "Das klassische Bild Goethes ist jugendlastig, zwischen Sturm und Drang, den übermütigen Umtrieben in Weimar und der Aneignung Italiens."

Seine Triftigkeit gewinnt Blumenbergs Unternehmen dadurch, daß die von ihm vorgenommene Korrektur zugleich eine Bewegung von Goethes Lebensgeschichte selbst ist. So stellt Blumenberg Goethes Lebensweg als die "bewältigte Enttäuschung des Selbstbildes der Jugend" dar, als das schmerzhafte Umschreiben der Lebensformel, das trotz jener stets neu hervorbrechenden Illusionen schließlich zu einem wachsenden Realismus Goethes geführt habe. Was Blumenbergs Arbeit am Mythos "Goethe" vorführt, ist mithin Philosophie, denn die bezeichnete der Denker einst als eine "Kunst der Resignation": Sie bändige die "Energie der großen Erwartungen, deren Enttäuschung zum Umschlagen in Weltzorn führen" könne. Daß Blumenberg diesem Zorn in seinem Goethebuch eine Sinnhaftigkeit des Lebens entgegenhält, zu deren Empfindung jeder fähig sei, der sich diesen Sinn nicht durch die Illusion verstelle, er müsse ihm in einer handlichen und jederzeit zu handhabenden Form zufallen, macht den utopischen Gehalt des Werks aus. Mit anderen Worten: Indem Goethe das Kunststück der Sinnfindung im Alter gelingt, vertritt er den Anspruch, den "jedermann" auf Lebenssinn habe.

Das literarische Werk Goethes reduziert sich bei Blumenberg folglich auf die Funktion, "daß da einer zu dem Sinn seines Lebens hin findet." Auch mit dieser Geste will der Philosoph ausgleichen: und zwar die falsche "Autonomisierung des Werks zu Lasten des Lebens". Freilich kann sich dieses Vorgehen nur ein Philologe erlauben, der in die Tiefen der Literatur einzudringen vermag, ohne auf den Text schauen zu müssen. Vor seinem inneren Auge jedoch sind die Texte alle präsent; erst sie schärfen den Blick des Philosophen Blumenberg, der, seinem Gegenstand ebenbürtig, noch die Gewalten hinter der Schrift lesbar zu machen versteht.

Titelbild

Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel. Hrsg. v. Hans Blumenberg-Archiv unter Mitwirk. v. Manfred Sommer.
Insel Verlag, Frankfurt 1999.
220 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3458169768

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