Manchmal gleicht das Leben einem Glücksspiel

In Larry Orbachs Autobiographie folgt Zufall auf Zufall

Von Verena FeistauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Feistauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nach allem, was man mir erzählte, hatte ich mich heftig dagegen gewehrt, auf die Welt zu kommen. War das vielleicht eine Vorahnung, daß ich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren werden würde?" Doch was hat eine schwere Geburt mit dem Leben, vielmehr ÜBERleben als Jude während des Nationalsozialismus zu tun?

Lothar (Larry) Orbach wird 1924 in der Nähe von Stettin geboren, recht bald zieht die Familie jedoch nach Berlin. Nach der Machtergreifung trösten sich die Eltern mit dem Gedanken, daß "in 6 Monaten sicherlich alles" vorbei sei, bleiben (anders als die beiden älteren Söhne) in Deutschland und beherbergen in ihrer Wohnung jüdische Psychiatriepatienten. Die Patienten werden nach und nach, wie schließlich auch der Vater, deportiert, Lothar und seine Mutter jedoch fliehen rechtzeitig. Sie nehmen neue Identitäten als "Ida" (mit Mutterkreuz) und "Gerhard" (dank Wasserstoff erblondet) an: Die Mutter kommt bei einer Freundin der Familie unter, Lothar findet bei verschiedensten Menschen Unterschlupf: bei einsamen Ehefrauen, in einem Bordell, bei zwei Nazi-Mädeln, bei einem alten Mann ("Opa"), bei einem ehemaligen Lehrer. Über Wasser hält er sich mit Billard- und Kartenspielen, Einbruch, Raub, Betrug und schließlich Kohlenschleppen. Im August 1944 wird er denunziert und nach Auschwitz deportiert.

Orbach erzählt eine kaum glaubliche Geschichte. Er wird offenbar vom glücklichen Zufall verfolgt. So gelingt ihm und seiner Mutter die Flucht vor zwei Polizeibeamten dank einer hilfreichen alten Frau, die sie in ihrer Wohnung versteckt am Weihnachtsabend 1942, wohlgemerkt. Wäre dies eine fiktive Geschichte, drängte sich sogleich die Frage auf: Hätte es denn nicht auch ein anderer Tag getan? In Auschwitz ist Lothar buchstäblich der letzte von 142. Personen, die als Arbeiter in eine Flugzeugfabrik aufgenommen werden. Die bessere Versorgungslage dort sichert ihm das Überleben.

Im Gegensatz zu diesen Geschehnissen, die man, so unwahrscheinlich sie auch sind, Orbach einfach glauben muß, wirken seine amourösen Abenteuer (zum Teil jedenfalls) absurd, grotesk und schier unglaublich. So zum Beispiel das "splitternackte" Fräulein Anker, das nachts am Klavier seiner Eltern "Für Elise" spielt, oder die übergewichtige Restaurantbesitzerin Eva, die ihm, ebenfalls "splitterfasernackt", in der Restaurantküche die Arie aus "Carmen" vorsingt, sowie Brigitte, die Ehefrau eines hochkarätigen Nazis, die besagtem Nazi am Telefon "eine sehr drastische Schilderung der Dinge" gibt, "die sie mit ihm machen würde" und "synchron dazu diese Dinge" mit Lothar machte. In einer öffentlichen Telefonzelle, wohlgemerkt.

Ebenso störend sind die unnötigen rhetorisch-pathetischen Fragen und die platten Metaphern, die sich aber Gottseidank im Laufe des Buches verlieren: man denke etwa an Lothars Orgasmus, als er dem klavierspielenden Fräulein Anker lauscht: "Plötzlich schoß ohne Vorwarnung ein Blitz durch mich hindurch, ein Vulkan begann sich zu entladen, und mit Lichtgeschwindigkeit schnellte ich unaufhaltsam durch das All - hing dann atemlos in der Stille der Unendlichkeit..." Hat er das in einem Cora-Roman gelesen? Warum muß diese Autobiographie stellenweise zum reichlich abgedroschenen literarischen Erguß werden? Denn das hat die Geschichte eigentlich gar nicht nötig.

Orbach schildert die Härten seines Lebens und die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, aber mit einem hoffnungsvollen, zum Teil fröhlichen Unterton, mit Freude über die Hilfe derjenigen, die ihn versteckt hielten und versorgten und mit Dankbarkeit dafür. Er stellt seine Entwicklung vom braven Bürgersohn zum Kleinkriminellen überzeugend dar und macht deutlich, was sein "Deutschsein" für ihn heißt und was die jüdische Religion (in zunehmendem Maße) für sein Leben und seine Hoffnung bedeutet. Das Auschwitz-Kapitel ist gelungen: es besteht aus Episoden, die Auschwitz so zeigen, wie Orbach (der im Vorwort sagt, daß er dem "ungeheuren Schrecken von Auschwitz" niemals gerecht werden könne) es erlebt hat.

Larry Orbachs Leben im Untergrund war außergewöhnlich und spannend - was ihm passiert ist, ist sonst niemandem zugestoßen, und insofern ist seine Geschichte ein einzigartiges Zeugnis. Die Sexualphantasien eines 16-, 20- oder auch 72jährigen sind das nicht: Aber die kann man ja auch überlesen.

Titelbild

Larry Orbach / Vivien Orbach-Smith: Soaring underground. Autobiographie eines jüdischen Jugendlichen im Berliner Untergrund 1938-1945. Aus dem Amerikanischen von Ralf Östereich.
Kowalke und Co. Verlag, Berlin 1998.
334 Seiten, 26,60 EUR.
ISBN-10: 3932191013

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