Verfrühtes Begräbnis eines Nobelpreisträgers

Über einen Nachruf auf Günter Grass

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die Situation war so peinlich wie bei einem öffentlichen Begräbnis. Ein Nobelpreis fordert Respekt. Doch wie verhält man sich, wenn man den Geehrten gering schätzt oder sogar haßt? Am besten, man schweigt. Aber wenn man reden oder schreiben muss? Dann regeln Rituale die höfliche Verstellung.

Jürgen Habermas, der sich über die Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass wirklich freuen konnte, sprach, im Blick auf den Prestigeverlust sozialdemokratischen Engagements, von einer "antizyklischen Nachricht". Grass stehe für eine Mentalität und "geistige Haltung, von der die Bundesrepublik bis heute zehrt." Für die intellektuelle Rechte in diesem Land, die sich seit 1989 mit Erfolg anschickt, den Gegnern die Meinungsführerschaft streitig zu machen, war die Nachricht zweifellos ein bittere Enttäuschung. Sie ließ sich nur mühsam verbergen. Einige haben sich kaum Mühe dabei gegeben.

"Wir verneigen uns vor dem Preisträger und seinem Werk..." Der Leitartikel der FAZ auf der ersten Seite nahm nicht nur den Ton eines Nachrufes an, er war ein Nachruf. Denn er erklärte Grass ausdrücklich für tot. Ein Toter wurde da geehrt, der sich selbst auf gespenstische Weise überlebt habe: "Keinem, der das öffentliche Schreiben und Wirken von Günter Grass begleitete, konnte entgehen, wie sich der Zeitgenosse auf geradezu unheimliche, aber auch zutiefst anrührende Weise zu überleben begann." Der Nachruf täuscht immerhin Mitleid vor, doch was folgt, sind Häme und Hohn. Der Nobelpreis bescheinige Grass, und mit ihm seiner Generation, den "Rentenanspruch". Mit ihm könne diese Generation in "Ruhestand gehen". Walser und Enzensberger inbegriffen? Die biologistische Rhetorik von Generationenkonstrukten, die sich seit einem Jahrzehnt neuer Beliebtheit erfreut, hat so ihre Tücken. Man trifft mit ihr auch diejenigen, die man nicht treffen will, oder stellt sich an die Seite anderer, die man eigentlich nicht leiden mag.

Eben erst erklärte Peter Sloterdijk im Namen einer neuen Generation die von Habermas repräsentierte Kritische Theorie für tot, da wiederholte Frank Schirrmacher Todeswünsche, wie er sie schon vor fast einem Jahrzehnt, im Einklang allerdings mit der wesentlich älteren Generation von Joachim Fest, vorgebracht hatte. Sie waren immer noch nicht in Erfüllung gegangen, und der Nobelpreis schien sie jetzt überhaupt in Frage zu stellen. Zum offiziellen Tag der neuen deutschen Einheit, am 3. Oktober 1990, klang die Totsagung noch so: "Die Literatur der Bundesrepublik wurde dreiundvierzig Jahre alt. Wie jener in der DDR steht auch ihr das Ende bevor. Nicht heute vielleicht, aber morgen." Diagnostiziert wurde das Sterben einer literarischen Linken, die in der Gruppe 47 groß worden war. Von Grass war schon damals ausdrücklich die Rede.

Sein Name tauchte etwa zur gleichen Zeit, zusammen mit dem von Habermas, in einem Artikel auf, den der intellektuellenfeindliche Hardliner des damaligen FAZ-Feuilletons, Jens Jessen, inzwischen designierter (und hoffentlich gewandelter) Leiter des Zeit-Feuilletons, geschrieben hatte. Schon der Titel klang wie ein Triumph: "Eine Kaste wird entmachtet". Die Wiedervereinigung komme der öffentlichen Verhöhnung "einer ganzen Priesterkaste" gleich. Eine Fülle von Namen wurde da aufgelistet. Da blieb von der deutschen Literatur nicht mehr viel übrig.

Beide Artikel haben zusammen mit einer Vielzahl ähnlich gearteter erfolgreich für die Verbreitung einer Legende gesorgt: Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatsapparate im Osten seien auch die Fundamente der westlichen Linken zusammengestürzt. Denn diese habe in Deutschland bis zuletzt Hoffnungen auf die DDR gesetzt. Gewiß, es gab solche Linksintellektuellen. Martin Walser gehörte zu ihnen, als er Anfang der siebziger Jahre der DKP verbunden war. Sie sind heute vielfach daran zu erkennen, daß sie sich, um die ihnen peinliche Vergangenheit nur ja möglichst unmißverständlich abzustreifen, mit der Intellektuellenfeindlichkeit der Neuen Rechten identifizieren.

Autoren wie Grass hatten das nicht nötig. Wie der andere Nobelpreisträger, der Freund Böll, ließ er an seiner kritischen Einstellung gegenüber totalitären Linksregimen keine Zweifel. Die Ereignisse in Prag hätten gezeigt, so erklärte Böll 1968, "daß hier der von Moskau zentral gelenkte Sozialismus seinen moralischen Bankrott erklärte". Zur gleichen Zeit und am gleichen Ort distanzierte sich Grass von Enzensberger, der die "politische Substanz" der Prager Studenten "dürftig" genannt und ihnen vorgeworfen hatte: "Die DDR gilt als Außenfeind. [...] Die cubanischen und chinesischen Vorstellungen und Erfahrungen werden ignoriert oder pauschal abgelehnt."

Durchaus symptomatisch für die Beziehung zwischen der DDR und einem gewichtigen Teil der westdeutschen Linken war, daß Günter Grass' Stück über den 17. Juni, "Die Plebejer proben den Aufstand", in der DDR verboten wurde. "Die Blechtrommel" durfte dort erst in den achtziger Jahren erscheinen. Die politischen Positionen der westdeutschen Linken wurden durch das Scheitern der DDR nicht widerlegt, sondern bestätigt. Zwar rechneten CDU-Politiker in einer Zeit, in der Golo Mann in der FAZ (im Mai 1968) Grass für den Posten des Regierenden Bürgermeisters von Berlin empfahl, zur "extremen Linken", doch ebenso kämpferisch wie gegen Georg Kiesinger, der das Amt des Bundeskanzlers mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auf nicht nur für Grass unerträgliche Weise belastete, setzte er sich gegen offen antidemokratische Tendenzen der außerparlamentarischen Opposition ein. Der unlängst von Wolfgang Kraushaar veröffentlichte Briefwechsel mit Adorno enthält dazu aufschlußreiche Dokumente. Grass appellierte im Oktber 1968 an Adorno, sich den radikalen Agitationen seiner Schüler entschiedener zu widersetzen.

Grass repräsentiert den in der Bundesrepublik nicht so seltenen Typus des linksliberalen Intellektuellen, der sich antidemokratischen Praktiken jeder Spielart mit großer Konsequenz verweigerte. Er hatte dabei die Courage, sich immer wieder zwischen alle Stühle zu setzen. Während er dem Sozialismus nahe legte, "sich seinen Geschwistern aus Zeiten der europäischen Aufklärung, nämlich den demokratischen Grundrechten, zu nähern", riet er der Sozialdemokratie, sich "vom kurzsichtigen Konsumdenken zu lösen" sowie die demokratische "Kontrolle der Macht- und Produktionsmittel" zu suchen. Bei allen politischen Irrtümern, die ihm unterlaufen sein mögen, machen ihn die besonnene Resistenz gegenüber jeder Form von Totalitarismus und die Kontinuität seiner Positionen weit glaubwürdiger als die politischen Verlautbarungen von Autoren mit mehrfach gewendeten Lebensläufen. Hartnäckigere Gegner als bei der Linken fand Grass auf der anderen Seite. Die politische Feindschaft war dabei allzu häufig mit literaturkritischen Argumenten getarnt. Einige der hartnäckigsten Fehlurteile wiederholten sich noch anläßlich der Verleihung des Nobelpreises gegenüber dem viel geschmähten Roman "Die Rättin". Kritik war da sicher angebracht, doch muß man dem Roman zumindest zugestehen, sich in einem artifiziellen Spiel mit der Apokalypse des Johannes und anderen kanonischen Texten der Weltliteratur so umfassend und komplex wie kaum ein anderer mit Traditionen auseinanderzusetzen, von deren Geltung heute so vieles abhängt: denen der Aufklärung. Das von der Aufklärung verbreitete Licht, so veranschaulicht es der Roman, kulminiert im unerträglich hellen und unendlich destruktiven Blitz der atomaren Bombe. Trotz solcher Kritik an den Folgen aufklärerischer Rationalität ist Grass den besseren Impulsen der Aufklärung verbunden geblieben. Es lohnt, sie mit ihm lebendig zu erhalten.