Physiognomik und Film

Ein Literaturbericht

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es neben der militärischen auch eine intellektuelle Allianz zwischen den USA und Großbritannien gibt, wird kaum erstaunen. Ein zentrales Exempel bildet der Neodarwinismus, der seit geraumer Zeit als Platzhalter des (natur-)wissenschaftlichen common sense in den Humanities diesseits und jenseits des Ozeans gilt. Wer im angelsächsischen Raum etwas auf sich hält, zollt heute Darwin und der sogenannten Evolutionspsychologie seinen Tribut. So maßgeblich der amerikanische Linguist Steven Pinker, dessen Verteidigung angeborener biologischer Formationen zum vielbesprochenen Meinungsführer zu werden verspricht. (Steven Pinker, "The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature". New York 2002). Doch liegen im Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten die Akzente anders. Mag auch der entfesselte Neoliberalismus der globalen Wirtschaft nichts anderes im Sinn haben, als eben das Überleben des Bestangepaßten, eben den "survival of the fittest" - im Diskurs zwischen Science und Humanities spielt es eine geringere Rolle als jedenfalls noch zu Hitlers Zeiten. Hieß damals das Reizwort Kampf, so heute häufig Gefühl (Emotion). "Gefühl" wohlgemerkt in Abgrenzung von, wenn nicht in ausgesprochenem Gegensatz zu psychoanalytischen Vorgaben; "Gefühl" nur oberflächlich mit individualpragmatischer Konnotation, vielmehr auffällig betraut mit allem, was in einer visuell orientierten Gesellschaft damit zu tun haben kann: Selbst- und Fremddarstellung, Selbst- und Fremdwahrnehmung. Verblüfft sieht man, daß Darwin auch für diese Verschiebung ein, wenn nicht das Referenzwerk geliefert hat. Mit der großen Abhandlung über "The Expression of the Emotions in Man and Animals" (London 1872), die innerhalb der "Anderen Bibliothek" des Eichborn Verlags in deutscher Übersetzung vorliegt, bahnte Darwin im Vorfeld der Erfindung des Films einem völlig neuen Mimikverständnis die Bahn. Unter Verwendung experimenteller Fotografien führte er einen weiteren Beweis der Mensch-Tier-Verwandtschaft vor. Mimische Aktivität lässt sich demnach im Einzelfall als abgekürzte motorische Handlung erkennen: Beißen, Drohen, Ekel, Begehren etc. kündigen ursprünglich ganze Handlungsketten an, werden vom Menschen aber auf Andeutungen reduziert. Und nicht nur das. Mimik gilt seit dem Mittelalter, mehr als Gestik, als Universalsprache, also als nicht oder nur bedingt kulturell konstruiert. Anatomische Untersuchungen des Neuroanatomen Duchenne, auf dessen Bilder Darwin rekurriert, zeigen dieselbe muskuläre Ausstattung des "mimischen Geländes" bei allen Menschen, beweisen mithin die gleichförmigen Möglichkeiten - und Grenzen - des Ausdrucks. Der mimische Ausdruck der Gefühle verbindet also nicht nur Mensch und Tier, sondern vor allem alle Menschen weltweit. Mit dieser Botschaft veröffentlichte im Jahr 1998 der britische Neurologe Jonathan Cole ein anrührendes Buch über die Erkrankungen des mimischen Apparats und die absolute Notwendigkeit mimischer Kommunikation, um soziale Kompetenz zu erlangen. ("Das Gesicht. Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben". München 1999).

In diese darwinistische Szene passte aber viel früher schon die Erfindung des Films wie auch dessen frühe Theorie. Der ungarische Schriftsteller Béla Balázs wurde zum Protagonisten der filmischen "Physiognomik", ein Begriff, den er nicht von Darwin übernahm, sondern von der populären zeitgenössischen Menschenkunde, womöglich sogar von der deutschen Biophilosophie der frühen zwanziger Jahre. Wenige Weltanschauungs-Diskurse zwischen 1918 und 1949 - dem Todesjahr von Béla Balázs - zeigten eine so vielverzweigte Kompatibilität zwischen Biologie, Medizin, Kulturgeschichte, Philosophie und Kunst wie der physiognomische. Physiognomik als Lehre von der Körperdeutung im weitesten Sinne, populär auch als "Gesichtslesekunst" verstanden, konnte in der Frühzeit von Fotografie und Film aus ihrer antik-okkulten Randständigkeit hervor- und modernisiert in den Dienst der neuen Medien treten, genauer, in den Dienst der sogenannten Pathognomik. So sah es Balázs:

"Die Großaufnahme ist die technische Bedingung der Kunst des Mienenspiels und mithin der höheren Filmkunst überhaupt. So nahe muß uns ein Gesicht gerückt sein, so isoliert von aller Umgebung, welche uns ablenken könnte ..., so lange müssen wir bei seinem Anblick verweilen dürfen, um wirklich darin lesen zu können. Der Film fordert eine Feinheit und Sicherheit des Mienenspiels, wie es sich der Nur-Bühnenschauspieler nicht träumen läßt. Denn in der Großaufnahme des Films wird jedes Fältchen des Gesichts zum entscheidenden Charakterzug, und jedes flüchtige Zucken eines Muskels hat ein frappantes Pathos, das große innere Ereignisse anzeigt. Die Großaufnahme eines Gesichts, sehr häufig als Schlußeffektbild einer großen Szene gebracht, muß ein lyrischer Extrakt des ganzen Dramas sein." ("Der sichtbare Mensch", Berlin 1926) In diesem - vielfach übersetzten und stark rezipierten - Buch hat Balázs die Konsequenzen der filmischen Physiognomik ausgiebig analysiert. Großaufnahmen von Gesichtern hochbegabter Stummfilmschauspieler wie Asta Nielsen oder Emil Jannings verlangen eine weitaus subtilere Physiognomik als sie die älteren, am stillen Bild orientierten Menschenkennerlehren zu vermitteln imstande waren. Das bewegte Bild erlaubt eine "polyphone Physiognomik", wie Balázs sagt, zeigt womöglich widersprüchliche Mienenspiele wie geologische Aufschlüsse hinter- und übereinander in ein und derselben Szene. Und nicht nur das. Da die Großaufnahme nicht nur Gesichtern, sondern Dingen überhaupt gilt, erhalten auch die Dinge selber einen Gesichtlichkeits-Status, nicht allzuweit entfernt vom Dingkult des Lyrikers Rilke zu Jahrhundertbeginn.

" [A]lle Dinge machen auf uns, ob es bewußt wird oder nicht, einen physiognomischen Eindruck. Alle und immer. Wie Zeit und Raum eine Kategorie unserer Wahrnehmung, also aus unserer Erfahrungswelt niemals auszuschalten sind, so haftet das Physiognomische jeder Erscheinung an. Es ist eine notwendige Kategorie unserer Wahrnehmung."

Differenzierter als von Balázs ist physiognomische Gesichtslesekunst damals weder von Kulturphilosophen wie Rudolf Kassner und Oswald Spengler noch von Medizinern wie Ernst Kretschmer definiert worden. Ein Grund dafür war die überzeugende Legierung von Physiognomik und Pathognomik bzw. Mimik durch Balázs. Gerade weil er seinen Begriff am frühen Stummfilm entwickelte, integrierte er drei gewöhnlich von der Theorie getrennte, vom alltagsweltlichen Wahrnehmen aber durchaus fusionierte Kategorien: die physiognomische Nahsicht aufs dingliche Detail, die Großaufnahme des mimisch agierenden Gesichts und schließlich noch die diesem recht eigentlich widersprechende Typisierung von Rollen im casting.

Filmhistoriker wie Massimo Locatelli (Béla Balázs: "Die Physiognomik im Film", Berlin 1999) haben diesen Widerspruch im physiognomischen Raisonnement durchaus bemerkt. Tatsächlich gibt es eine Physiognomik der Kamera (Nahaufnahme, Mimikzeichnung) neben einer Physiognomik des Regisseurs, der Rollen mit bestimmten Typen besetzen will. Von derartiger Typisierung hat selbst Eisenstein in einer Rede 1941 gesprochen und sich dafür sogar auf Lavater berufen - also auf den Erfinder der goethezeitlichen Physiognomik. Aber ist es ein Widerspruch? Schließlich mündet alle physiognomische Wahrnehmung in neurologische Bahnen, die im Dienst des Wiederkennens und Speicherns von Gesichtern und Gestalten mit typisierenden Verkürzungen arbeiten.

1931 schrieb und produzierte Balázs seinen letzten Film in Deutschland: "Das blaue Licht", zusammen mit Leni Riefenstahl. Was aus seiner differenzierten physiognomischen Doktrin werden sollte, konnte er ab 1932 in Moskau erleben, wohin er rechtzeitig übersiedelt war. Nicht nur veröffentlichte im selben Jahr 1932 Ernst Jünger einen schneidenden Essay über die Physiognomie des futurischen Menschen ("Der Arbeiter")- das ganze rassistische Programm der NS- Herrschaft bemächtigte sich des Diskurses (vgl. dazu die einschlägigen Aufsätze von Willibald Sauerländer über Lavater, Paul Schultze-Naumburg u. a., sowie Claudia Schmölders, "Hitlers Gesicht", München 2000). Als der christliche Existenzialist jüdischer Herkunft Max Picard 1937 sein Buch über "Die Grenzen der Physiognomik", erscheinen ließ, war diese Erkenntnis längst nicht mehr durchsetzbar; das jüdische Gesicht war längst zum Feindbild schlechthin erklärt.

Physiognomik als "Gesichtslesekunst", wie sie im 18. Jahrhundert noch genannt wurde, erlebte gleichwohl auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Renaissance. Mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit entwickelte seit den 50er Jahren der ehemalige US-Militärpsychologe Paul Ekman seine Theorie der mimischen Universalsprache im Anschluss an Darwin, dessen Werk er letztes Jahr mit umfassenden Kommentaren ediert hat. Frappant mutet der Fortschritt der Wissenschaft an. Kannte Darwin noch mehr als 35 Emotionen, so Ekamn höchstens acht, mehr sind angeblich im Gesicht nicht sichtbar, aber sichtbar müssen sie sein. Ekman hat in der März-Ausgabe 2003 von "Lettre" sogar den britischen Autor Ian McEwan dazu inspiriert, dem erstaunten Leser den Nutzen mimischer Kundgabe vorzustellen. Zeigt nicht die Literatur als gehobene Anthropologie gleichfalls die immergleichen emotionalen Muster, wie von der Biologie behauptet? Ist der Mensch nicht immer derselbe? Unser Mienenspiel, sagt Ekman, wechselt interkulturell zwischen Freude, Angst, Überraschung, Zorn, Ekel und Bewunderung. Auf derartigen Kundgaben ruht die globale Verständigung, auch und nicht zuletzt über Bilder.

So verwundert es kaum, dass Ekman auch als treibende Kraft hinter der neuesten Filmphysiognomik steht, etwa der von Murray Smith. Unter dem Titel "Darwin and the directors. Film, emotion and the face in the age of evolution" ("Times Literary Supplement", February 2003) wird hier ein Plädoyer für die Großaufnahme des Gesichts assoziiert mit dem evolutionsbiologischen Credo des Mimikforschers. Was den Menschen eigentlich treibt, sind Gefühle. Gefühle induzieren Handlungen (während der Kopf immer nur hamletisch denkt) und zeigen sich am unverstelltesten in der Mimik. Mimik überträgt ihre Inhalte ansteckend auf den Zuschauer. So kommt es zu einem gemeinsamen Empfinden, ja zur Schulung von Gemeinsamkeit überhaupt. Ideen von kultureller oder gar individueller Differenz werden beiseite geschoben, das Raffinement mimischer Brechungen, Virtuosen des stillgestellten Gesichts wie Buster Keaton oder Chaplin nicht mehr wahrgenommen.

Von Physiognomik ist hier zwar nicht die Rede, mit der Begründung, Physiognomik befasse sich nur mit dem Körperbau - als gäbe es eine Mimik ohne tragenden Kopf. Aber wie die maßgeblichen Anthropologen nach 1945 (Margaret Mead) suchte Ekman den Begriff wegen seiner rassistischen Implikationen zu vermeiden; doch vermied er damit natürlich auch die Auseinandersetzung mit dessen unbequemer Geschichte. Dasselbe gilt für die zeitgenössischen Filmhistoriker. Auch wenn sie gelegentlich über Balazs' Physiognomik berichten, meiden sie die Begriffsgeschichte. Unumgänglich für jede Filmtheorie blieb und bleibt aber die Sache selbst.(Vgl. auch Gertrud Koch, "Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion". Frankfurt a. M. 1995). Zu Beginn der 80er Jahre trat die "Gesichtslesekunst" mit den beiden französischen Philosophen Emmanuel Lévinas und Gilles Deleuze in ein neues Stadium der Reflexion. Lévinas zeigte sich religiös und anerkennungstheoretisch motiviert, Deleuze unterwegs zu einer neuen Filmtheorie. Zusammen mit dem Psychiater Guattari entwarf er eine Kritik der physiognomischen Obsession der abendländischen Kultur überhaupt. Ein Gesicht - vor allem das Gesicht Christi, die zentrale Ikone - könne nicht als Universalsymbol gelten. Auch und gerade das Gesicht sei phänotypisch multikulturell konnotiert. Zehn Jahre später hatte Deleuze die Gesichtslesekunst vollständig in die Filmtheorie integriert: "Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht. Eisenstein meinte, die Großaufnahme sei nicht nur ein Bildtypus unter anderen, sondern gebe eine affektive Lesart des gesamten Films. Das stimmt für das Affektbild: Es ist zugleich Bildtypus und Bestandteil aller Bilder." ("Das Bewegungsbild". Frankfurt a. M. 1989).

Nicht an Deleuze, wohl aber an Lévinas schließt eine der neuesten Arbeiten zum Thema an, der Aufsatz von Jean-Marie Samocki ("Neue Fiktionen des Gesichts", in: Blümlinger/Sierek, "Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes". Wien 2003). In seinem überaus reich dokumentierten, prägnant argumentierenden Text lässt Samocki den neueren amerikanischen Film Revue passieren, genauer: die Gesichter in diesen Filmen, die mit den Grenzen zwischen Mensch und Nichtmensch spielen. Das Fazit ist ein ausgesprochen humanistisches. Samocki registriert und reagiert empfindlich auf die amorphen physiognomischen Exzesse dieses Kinos. "[Die] produktivistische und kommerzielle Ausbeutung des Gesichts ebenso wie die Verwendung von neuen Technologien stellen die zentrale Frage der Menschlichkeit ins Abseits, verwischen die Antinomien von Terror und Humanität." Vom Gesicht bleibe in dieser Filmkunst nur mehr eine "Gesichts-Disposition" übrig, "eine bestimmte Anordnung von Materie, die weder einzigartig noch unanfechtbar ist." Sofern der Computer als Bilderzeuger bemüht wird, stamme jedes Gesicht aus der Retorte, betreibt er eine "Logik der mimetischen Enteignung". "Durch die Umwege und Annäherungen dieser vielfältigen Erfindungen entsteht dem Bild des Menschen erst Konkurrenz, dann wird es ersetzt und manchmal endgültig verdrängt." Entfesselte Phantasie produziert einen Aufmarsch von "markierten Verschwörern, anthropomorphen Androiden, ausdruckslosen Robotern, prähistorischen Tieren und anderen mechanischen oder computergenerierten Simulakren. Die Verwirrung zwischen dem Zoologischen, dem Maschinellen und dem Menschlichen ist total." Das Gesicht, meint Samocki, sei die letzte zu überschreitenden Schwelle für das amerikanische Kino gewesen; der Film der 90er Jahre habe sich "der systematischen Arbeit der Gesichts-Veränderung verschrieben", Veränderungen, die als Auslöschungsarbeit erscheinen.

Was für Schlüsse soll man daraus ziehen? Samocki will eine Korrelation zwischen der Dehumanisierung von Köpfen auf der Leinwand und einem gesichtslosen Zuschauer erkennen: "Der Mensch ohne Gesicht ist das letzte Stadium der Formierung des Weltzuschauers". Man mag hinter Samockis Argumenten die alten Hollywood-Idiosynkrasien französischer Herkunft erkennen und feststellen, wie er einmal mehr das humanistische Würde-Konzept eines Lévinas gegen den technologischen Furor einer computergestützten Traumwelt verteidigt. Der Gedanke, daß das hemmungslose morphing im Film etwas mit der gesichtsamorphen Masse der Zuschauer zu tun hat, verdient aber nähere Betrachtung. Denn wie verhält sich diese Beobachtung zu jener von Murray Smith, daß das Filmgesicht uns mit dem "wahren" mimischen Ausdruck der Gefühle beglückt, daß wir am Film den archaischen emotionalen Kontakt zum Mitmenschen lernen? Nach Smith sind selbst die größten Gesichtverzerrungen - also eigentlich Grimassen im älteren Sprachgebrauch - nichts anders als Affirmationen des natürlichen mimisch-emotionalen Geschehens. "Understanding how facial expression ordinarily functions sharpens our appreciation of the aesthetic sculpting of expression by particular artists". Freilich beruft sich Smith auf ältere Regisseure - Hitchcock und Bergman etc. - und nicht auf die gegenwärtige Szene wie Samocki. Technoides morphing reicht zudem weit über ein Mienenspiel hinaus. Es spielt mit den Gattungsgrenzen des "sichtbaren Menschen" nicht anders als die transgene Technik mit dem unsichtbaren, vom Zellkern her. Physiognomik in diesem Fadenkreuz kehrt auf erstaunliche Weise zu ihren aristotelischen Anfängen zurück. Am Gesicht lässt sich jedenfalls der Mensch von andern Tieren unterscheiden, auch wenn beide vieles gemeinsam haben. Samockis Filmkritik mündet in fromme, substanzlogische Anthropologie - statt in Komödienforschung. Denn wäre nicht das meiste, was er beschreibt, eigentlich nur Ausweis einer hartnäckig karnevalesken Kultur, wie sie der russische Literaturwissenschaftler Bachtin für das Zeitalter Rabelais' skizziert hat? Der gesichtslose "Weltzuschauer" will womöglich nur unterhalten werden. Er will den humanistischen Regeln entkommen. Vielleicht besteht im Gesichtsverlust eines der stärksten Amüsements? Schließlich hat das Kino mit grimassierenden Gesichtern auf der Kirmes begonnen.

Es gäbe aber auch eine andere Deutung, die nicht vom Gesichtsverlust, sondern geradezu vom Gesichtsverfall sprechen würde, ganz ähnlich, wie man heute von einem "Bildverfall" reden kann. Der postmoderne Gemeinplatz der 80er Jahre, wonach das Gesicht des Menschen selber schon weiße Leinwand mit schwarzen Löchern sei - Deleuze' frühe, schreckliche Metapher - hat die Ahnung einer Konvertibilität von Bild und Gesicht aufkommen lassen. Eine gegenseitige Fundierung mit letalem Ausgang. Weder Sartres existenzialistische Philosophie des Blicks, noch Lévinas' humanistische Apotheose gesichtlicher Verletzlichkeit haben sich gegen diese mediale Evolution durchsetzen können. Sie zielt auf den Verlust des erwidernden Blicks. Ein Gesicht auf der Leinwand sieht kein Gegenüber mehr, es sieht nur die Kamera. Gäbe es nicht die Lichtprobleme, kein Zuschauer müsste sich vor den Leinwandgesichtern im Dunkel verstecken, weil sie ihn ohnehin nicht sehen. Verstecken müsste und will er sich nur vor den andern, den leibhaftigen Zuschauern.

Titelbild

Jonathan Cole: Über das Gesicht.
Verlag Antje Kunstmann, München 1999.
398 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3888972264

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Titelbild

Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und Tieren.
Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekmann.
Übersetzt aus dem Englischen von Julius Victor Carus und Ulrich Enerwitz.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
458 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3821841885

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Kein Bild

Christa Blümlinger / Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes.
Sonderzahl Verlag, Wien 2002.
287 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3854491808

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