Lichte Gedichte

Hans Magnus Enzensberger bleibt sich treu

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man die neuen Gedichte von Hans Magnus Enzensberger an den früheren mißt, so möchte man meinen, daß aus dem Phantasten und Utopisten, dem Revolutionär und Politkasper ein Realist geworden sei, der nur noch wenig Lust verspürt, nach den - vermutlich unwirtlichen - Sternen zu greifen ("Abschiedsgruß an die Astronauten"). Die eigene Unsterblichkeit kümmert vorerst nicht, wer einen Terminkalender bei sich hat ("First Things First"). Doch so einfach läßt sich der Autor auch wieder nicht packen. Es gibt viele Definitionsversuche des Dichters, des lyrischen "Ichs" in diesem Band, sie schließen einander nicht gerade aus, sind aber auch nicht unbedingt kompatibel. Wieder gewinnt man den Eindruck, hier spräche einer, der sich entziehen möchte ("Entzugserscheinungen"), der in immer kürzeren Abständen auf das frühere Selbst zurückblickt, skeptisch, selbstironisch, auch ein wenig abgeklärt.

Enzensberger besticht erneut durch seine Themenvielfalt: In einem Gedicht ("Wissenschaftliche Theologie") wird Gott als Laborant dargestellt und die Erde als Ergebnis einer Versuchsreihe, als Novität. Leider wird versäumt, ihre Entwicklung im Testlauf zu beobachten, sie zerfällt, ohne von ihrem Demiurgen so richtig wahrgenommen worden zu sein. An der Güte und Gerechtigkeit Gottes wird also nicht gezweifelt, bloß an seiner Aufmerksamkeit. In einem anderen Text jedoch wird von einer fehlerhaft gespielten Etude auf die Fehlbarkeit Gottes geschlossen ("Fehler"). Mit leichter Hand verknüpft Enzensberger Makro- und Mesokosmos, und auch der Mikrokosmos, etwa im Bilde des "neuronalen Netzes" gedacht ("John von Neumann"), wird ins Gedicht geholt. Enzensberger pflegt seine Vorlieben, die Mathematik ("Arbeitsteilung"), die Sprachen, die Reiselust, das Rätsel. Inmitten lauter Beschäftigungen möchte hier einer wissen und erfahren, was im Leben wirklich wichtig ist: Die Katze, die "am Spalt der Küchentür zupft", der "alte Herr", der sich von der neunzehnjährigen Friseuse die Kopfhaut massieren läßt, die wissen, was sie wollen, wußten es schon immer oder haben es gelernt. Beinahe zu spät kommt die Erkenntnis für den Großvater:

Mein Großvater, / dieser Glückliche, /verstand wenig vom Leben. [...] Mit siebenundneunzig / sah er, ungläubig / und zum erstenmal, eine Klinik von innen. / "Schade", murmelte er, / "hätte ich nur gewußt, / wie reizend sie sind, / die jungen Schwestern / an meinem Bett, / wie sanft ihre Hände, / früher, viel früher wäre ich krank geworden".

Noch in der Darstellung des Todes wird der späte Enzensberger zum Idylliker. Er taucht die grelle Realität der Pflegeheime und Krankenhäuser in ein gnädig gedämpftes Licht. Den Großvater, der intensiv gelebt hat ("er keuchte vor Appetit"), läßt er nicht lange leiden - der Erfahrung des Schönen folgt der erlösende Tod auf dem Fuße.

Gute Gedichte wiegen "Leichter als Luft" heißt es im Titelgedicht, und Enzensberger beweist uns, daß "moralische Gedichte" (so der Untertitel) nicht schwer auf der Seele lasten müssen. Aus diesen Texten spricht nicht der moralinsaure Leiter einer Besserungsanstalt, hier spricht kein Apostel und kein Eiferer, kein Proselyt und kein Konvertit, sondern einer, der sich im Wechsel treu geblieben ist, der Köpfchen hat, der seinen Texten Flügel verleiht, Helligkeit und Schnelligkeit. Formal virtuos, bisweilen streng, häufiger verspielt, handwerklich solide, immer behende, niemals peinlich - so lassen sich die Texte auf eine kurze Formel bringen. Enzensberger ist kein Perfektionist, sondern einer, der an die Verbesserung des Unvollkommenen glaubt.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft. Moralische Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
136 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 351841058X

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