Archäologie des Hypertext
Zur Kritik eines digitalen Mythos von Stephan Porombka
Von Julia Isken
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseÜberfällig ist sie nach nur wenigen Jahrzehnten digitaler Medien: die Suche nach Gründungsmythen des modernen Medienhypes. Auf fast 400 Seiten fördert Stephan Porombka einiges zu Tage über Ursprünge des Digitalen, Hypertext, computerisierten Netztext.
Die Suche gleicht archäologischen Ausgrabungen aus der Steinzeit in Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der sich die neuen Medien entwickeln. Tatsächlich die Schriften und Entwürfe der Urväter des Hypertexts zu entstauben, hat sich bisher kaum jemand bemüht. Und das, obwohl Vannevar Bush, Douglas C. Engelbart und Ted Nelson den Computer und seine Vernetzung entscheidend geprägt haben mit ihren Ideen, Entwürfen und Apparaten.
Mit Technikbeschreibungen hält sich der Text nicht auf. Er betreibt kein historisches Hard- oder Software-Studium, sondern Literaturwissenschaft, um die Mythen des Digitalen zu erforschen. Darum hat "Hypertext", das schon 2001 erschienen ist und auf Stephan Porombkas Dissertation von 1999 beruht, kaum an Aktualität eingebüßt. Was für das Buch eine verlängerte, für das Thema Hypertext untypische Halbwertszeit bedeutet.
Anliegen des Buches ist es, nach den Triebkräften zu forschen, von denen Hypertextentwürfe motiviert sind. Dafür taucht Porombka zunächst ein in die Welt der Hypertext-Visionen, Entwürfe, die später zu Mythen werden: Da sind die Versuche, Text zu befreien, zu einer wahren Textur zu verhelfen. Die Komplexität der Welt durch nicht-lineare, netzartige Strukturen besser abbilden zu können. Text durch Manipulationsangebote in den Griff zu bekommen, besser mit ihm interagieren zu können. Hyperdimensionale Räumlichkeiten zu entwerfen, in denen die Beschränkungen und Zwänge der dreidimensionalen Welt aufgehoben sind.
Der erste Teil des Buches erarbeitet historisch die sozialutopische Programmatik der Hypertext-Pioniere. Mit Computern und Netzen werden Träume zu erfüllen versucht. Drei dieser Wünsche untersucht der zweite Teil von "Hypertext" genauer: Komplexität bewältigen, Interaktivität steigern, nicht einschränkende, schier unendliche Hyperräume errichten. Die Untersuchung verspricht spannend zu werden - wenn Porombkas Arbeitsmethode nicht eine wesentliche Schwäche hätte: die Psychoanalyse. Sie muss herhalten, um Motivation und Triebkräfte der Hypertext-Visionen zu erklären.
Zwar warnt Porombka selbst davor, sich zur Analyse von Hypertext, wie viele es versuchen, ein "Dream-Team" der literarischen Moderne zusammenzustellen - etwa Derrida, Bachtin, Lacan oder Deleuze. Denn beim Verweis auf diese Namen im Hypertextdiskurs gehe es darum, die eigentlichen Probleme, auf die der Hypertext antworten wollte und die der Hypertext selbst geschaffen habe, zu verdrängen. Paradoxerweise zieht Porombka selbst den vielleicht Einflussreichsten der literarischen Moderne heran: Sigmund Freud. Scharfsinnige Beobachtungen verstauben so durch bisweilen zu tiefe Griffe in die psychologische Mottenkiste. Ein Beispiel zu Vannevar Bushs Hypertext-Entwurf:
"Diese Arbeit an der Memex, die aus einem fortwährenden Verknüpfen, Verstecken und Wiederhervorholen besteht, ähnelt dem berühmten Fort-Da-Spiel des Kindes, das einen kleinen Gegenstand mit einem Bindfaden verknotet, ihn außer Sichtweite wirft, wieder hervorzieht und freudig begrüßt. Was es dort wegwirft und zurückholt, das ist eigentlich nicht der Gegenstand selbst. Er steht, so hat Sigmund Freud behauptet, für die Mutter, von der das Kind oft für Stunden verlassen wird."
So viel zu Porombkas Deutung, Bushs Memex sei der Versuch, durch Hypertext eine als zu komplex erlebte Welt zu bewältigen. Zugrunde liegt Porombkas Hypothese, Medienwechsel seien immer mit erheblichen psychischen und physischen Belastungen verbunden.
Oder, kürzer gesagt: neue Medien traumatisierten den Menschen. Das Trauma wird zum Axiom, das ihn Freud zitieren lässt. Und dieser diagnostiziert: Menschen reagieren auf ein Trauma, indem sie es immer wieder durchleben, wiederholen oder abwehren, verdrängen, vermeiden. Deshalb kommt auch Porombka zu dem Schluss: Hypertext sei nur ein Versuch zur Heilung, zur Angstabwehr. Es werde mit wachsender Rasanz versucht, immer dieselben scheiternden Lösungsstrategien auf immer dieselben Konflikte anzuwenden: "Hypertext ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverkörperung."
Weltverwandlungsphantasien und Computergötter, vor allem aber die Motive der Urväter des Hypertext findet der dritte Teil in der Science-Fiction-Literatur der fünfziger Jahre. Es folgen Verweise auf die Computerspiel-Ära der 1970er, die Hypertext-Avantgarde der 80er Jahre sowie interaktive "Echtzeit-Literatur" im World Wide Web der 90er. Mit dem Ergebnis, dass Hypertextliteratur sich bis heute die Erfüllung der ursprünglichen Träume verspricht - und mit diesen Utopien scheitert. Porombka interpretiert die gesamte Hypertextliteratur als Versuch, mit dem Trauma Medienwechsel zurechtzukommen.
Der Nutzen des Buches liegt in Porombkas gründlicher Lektüre von Bush, Engelbart und Nelson. Nach den Motiven ihrer Visionen zu forschen, birgt ebenfalls Interessantes - wenn man die psychologisierenden Ausführungen herausfiltert. Vor allem ihretwegen ist der dritte Teil von "Hypertext" nur begrenzt von Belang, zumal die Kriterien zur Auswahl der Werke unklar bleiben. An Qualität als literaturwissenschaftliches Handbuch zur Hypertextinterpretation gewonnen hätte das Buch eher in Form einer Quintessenz zum Unterfangen digitaler Mythen.
Dennoch: jenseits von emphatischer Affirmation oder kulturpessimistischer Abwehr der 'Neuen Medien' bildet "Hypertext" einen wertvollen Beitrag zur aktuellen theoretischen Diskussion. Denn es ist aus jener Distanz heraus geschrieben, die ein umfassendes Wissen im Themengebiet verrät. Porombka teilt seine Erkenntnisse unterhaltsam mit; er verkneift sich selten ein amüsiertes Augenzwickern ob der Mythen des Digitalen. Und lässt den Leser umso mehr verwundert darüber zurück, wie oft Geistes-, Kultur-, Medien- und auch Sprachwissenschaftler in der Interpretation und Analyse der digitalen Medien in einem der Mythen verharren, ohne sich darüber bewusst zu sein.
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