Szenische Mikropolitik

Eine Sammlung aktueller Theaterstücke

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das deutschsprachige Theater der Gegenwart, von Sparzwängen geplagt, versichert sich derart eifrig seiner Bedeutung, dass der Zweifel an ihr unüberhörbar wird. Wie lebendig diese Kunstform ist, müsste sich zum einen an der Möglichkeit erweisen, den großen Kanon der Vergangenheit für das Heute neu zu sehen; weil aber das Regietheater ermüdet ist und weil man lange Schauspieler suchen muss, die Verse Kleists oder Schillers zu sprechen vermögen, ohne Rhythmus und Sinn zu verhöhnen, ist zur Zeit nur wenig zu erwarten.

Weitaus besser sieht es, zum anderen, mit der gegenwärtigen Produktion aus. Seit einigen Jahren haben jüngere Autoren, die ihr Schreiben vielfach auf die spezifischen Fähigkeiten heutiger Schauspieler ausrichten, größere Chancen auf eine Inszenierung. Ihre Stücke, nicht allein an den kleineren Nebenbühnen, haben durchaus ihr Publikum. Freilich ist der Trend schwer wahrzunehmen: Aus der Vielzahl der Talente unter den mittlerweile 30 bis 50-Jährigen haben sich nicht die drei oder vier Großautoren gezeigt, an deren Werk sich eine nicht-spezialisierte Öffentlichkeit orientieren würde. Auch was die dramaturgischen Konzepte angeht, gibt es weder einen vorherrschenden Trend noch ein klares, programmatisches Gegeneinander verschiedener Schulen. Gerade die unübersichtliche Vielfalt mag den falschen Eindruck befördern, dass nichts wesentlich Neues geschehe.

Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven standen also vor keinen leichten Aufgabe, als sie für den mittlerweile zwölften Band der verdienstvollen Reihe "Aktueller Stücke" im Fischer Taschenbuch Verlag Texte auszuwählen hatten; und ebenso wenig steht es der Rezensent, der über das Ergebnis, zwölf sehr unterschiedliche Stücke, zu orientieren hat. Er behilft sich mit einer Zweiteilung.

Genau die Hälfte der Stücke weist eine Gemeinsamkeit auf: einen eindeutigen, klaren, häufig auf Pointen zielenden Dialog. Der Leser braucht wenig an bildlicher Vorstellung, was nicht ausschließt, dass manche dieser Texte erhebliches bildliches Bühnenpotential haben. Augenfällig ist in allen dieser sechs Dramen ein technisches Geschick, das freilich zu Ergebnissen von höchst unterschiedlichem Wert führt.

Als einziger fremdsprachlicher Text hat sich Sam Shepards "Die letzten Tage des Henry Moss" in den Band verirrt. Nicht ohne gekonnten Spannungsbogen bringt Shepard die beiden Söhne Henry Moss' auf die Bühne, die den Tod des Vaters und damit die eigenen Konflikte rekonstruieren. Routiniert mischt Shepard die Zeitebenen, deckt das Gewaltpotential unter den Brüdern auf; doch fragt man sich am Ende, wozu man einen weiteren Beweis der Gewalt in der Familie lesen sollte, und ob es sich nicht eher um ein Drehbuch handelt. Letzteres wird noch deutlicher bei Sabine Harbekes "schnee im april". Die detaillierten Anweisungen, wer sich wann wie zu bewegen hat, lassen keinen Raum für theatralische Fantasie; und mit Schrecken liest man im übrigens allzu sparsam ausgefallenen Anhang, dass die Autorin bei der Uraufführung auch noch selbst Regie geführt hat. In diesem Stück, in dem ein angeblicher Halbbruder in eine Ehe eindringt, die Beziehung gefährdet und schließlich durch eine Gegenintrige vertrieben wird, ist alles wie nach einem dramaturgischen Lehrbuch kalkuliert und damit vorhersehbar; sogar die Leerstellen, die so etwas wie ein geheimnisvoll Poetisches suggerieren, stehen da, wo man sie erwartet. Solch einen Psychokrieg sah man auf der Bühne schon oft, besser und überraschungsreicher.

Sind diese beiden Stücke überflüssig oder ärgerlich, so gilt das nicht für die vier anderen Dramen dieser Gruppe. Hansjörg Schertenleib führt in "Radio Kashmir" eine Gruppe Vierzigjähriger zu einer freudlosen Party zusammen. Sie legen sich Rechenschaft ab, was aus ihren Zielen in der Jugend geworden ist. Das geht bewusst nicht ohne Klischees ab - der eklige Kerl aus der Werbebranche, der Lehrer der immer noch kifft und die Künstlerin, die ihren Erfolg nur vorspielt. Die Klischees aber werden durchbrochen; der funktionierende Dialog funktioniert nicht, dient nur dazu, die anderen zu verletzen und nicht, der quälenden Einsamkeit zu entkommen. Das ist traurig zu sehen und lustig zu lesen, denn Schertenleib leidet nicht mit dem Leid seiner Personen, sondern fasst das Scheitern trocken ins Bonmot.

Mehr noch ist die "Untertreibungskomödie" "Die Frankfurter Verlobung" des jüngst verstorbenen Kabarettisten Matthias Beltz durch die Sentenz dominiert. Anders als bei Shepards und Harbekes Familienmodellen ist Beltz' Stoff konkret historisch geprägt. Die älteren unter den Akteuren erinnern sich mit einer Mischung aus nostalgischer Wehmut, Stolz und zynischer Distanz an vergangene Straßenschlachten. Dabei entsteht weniger eine Skizze früherer politischer Frontlinien; vielmehr wird nachvollziehbar, wie Gewalt an Attraktion gewinnt, wie sie sich spontan entwickelt. Aber auch ihre Momente von Banalität und Gewohnheit treten hervor. Die Jüngeren, soweit nicht desinteressiert, lauschen: neidisch auf eine Generation, die Politik noch erleben konnte, unabhängig vom politischen Standpunkt. "Die Frankfurter Verlobung" besticht durch Beltz' Blick auf die Gesetze politischer Dynamik ebenso wie durch trockenen Sprachwitz.

Zeitloser ist "Dreier" von Jens Roselt. Das Grundmotiv ist denkbar banal: Mann 1 betrügt seinen besten Freund Mann 2 seit ein paar Jahren mit dessen Frau. Eines Nachts taucht der Ehemann im unpassenden Moment auf. Genießbar ist das dennoch, weil die Klischees und großen Gefühle nie, fast nie, ausgesprochen werden: Drei Verletzungskünstler werten sich gegenseitig ab, um nur ja nicht jene verletzbare Stelle zu verraten, die natürlich sofort erraten wird. Die Kunst der Bosheit beherrscht Roselt ebenso virtuos wie er es vermag, lange Zeit in der Schwebe zu lassen, wer wann was wusste, wer wen wie instrumentalisierte. Dass schließlich dennoch Gefühle hervortreten, bedeutet nicht Trost, sondern führt erst die Katastrophe herbei. Der kalkulierte Aufbau hat hier seine Funktion, weil nicht mühsam psychologisierend Identifikation angestrebt ist, sondern sprachmächtige Kunstfiguren einen zerstörerischen Mechanismus vorführen.

Igor Bauersima zeigt in "Factory", wie Hamletadaption und eine geringfügig brutalisierte Version von Big Brother zusammengehen. Die Figuren streiten mit Blick auf ihr "Reaktiometer", das den aktuellen Stand der Publikumsgunst anzeigt, um den Hauptgewinn. Da sie bewaffnet sind, wundert es nicht, dass gleich anfangs der Spitzenreiter liquidiert wird und sich im weiteren Verlauf die Bewohnergruppe entschieden reduziert; erst ganz am Ende klärt sich, ob der zögerliche Sympathieträger die Konkurrenz überstehen, vielmehr: die nächste, wohl kaum harmlosere Runde erreichen wird. Natürlich ist das Szenario grob unrealistisch und das Morden vor laufenden Kameras so abstrus, wie die Sendungen von heute vor zehn Jahren geschienen haben mögen. Die latente Gewalttätigkeit der aktuellen Unterhaltung ist jedoch ebenso genau erfasst wie der instrumentelle Charakter der Sensibilität, die man heute nach außen kehren muss. Die "Factory", die nach Andy Warhol jedem 15 Minuten Berühmtheit garantiert, ist genaues Abbild einer Gesellschaft, in der Einfühlung und Intimität nur besonders raffinierte Mittel sind.

Wer einen pointierten Dialog schreibt, kontrolliert den Theaterabend und wird, brauchbare Schauspieler vorausgesetzt, den Effekt auf das Publikum nicht verfehlen. Wer den Aufführenden Freiraum lässt, durch freilich mittlerweile auch lange schon konventionalisierte Mittel, wagt mehr und verlangt insbesondere in einer Druckfassung einen Leser, der die Möglichkeiten einer Bühne, vieler Bühnen, in seinem Kopf zu entwickeln vermag. Bei jeder denkbaren Umsetzung dürfte allerdings "Diese Farbe ist nicht mehr erhältlich" von Michael Stauffer einen Geschlechterkampf vorführen, der in seinen bemühten Sprachetüden zu leichtgewichtig ist. Eindrucksvollere Bilder erlaubt wohl Ulrich Zaums "Irrlichter", eine szenische Reihe über die zunehmende Isolation einer exilierten Dichterin in der Schweiz der 30er Jahre. Indem freilich die Sympathie eindeutig gelenkt und der Topos der nur aus mangelndem Verständnis unausstehlichen Künstlergestalt getreu reproduziert ist, wirkt das Stück ein wenig überflüssig.

Mehr überzeugen zwei Werke, in denen sich entschiedene sprachliche Verdichtung zeigt. Herbert Achterbuschs "Alkibiades am Ende" zeigt den antiken Helden kurz vor seiner Verbannung aus Athen und dann, in kühnem Orts- und Zeitsprung, in seinem Exil im gegenwärtigen Bayern. Im philosophischen Wettstreit mit Sokrates zeigt sich in der ersten Hälfte der aktivistische Freigeist Alkibiades, in der zweiten Hälfte wird er, über bajuwarische Unsitten schimpfend, zum letztlich hilflose Flüchtling. Der unwillige Bezug auf die hohe Dramenform - "Scheiße. Tragödie" steht vor dem Beginn - hat seine zweifache Funktion. Zum einen ist er komisches Element in zweifacher Fallhöhe, vom ersten zum zweiten Teil und innerhalb des zweiten, wenn etwa der antike Wagenlenker in hohem Ton einen modernen Verkehrsunfall schildert und dessen Wertung natürlich nicht versteht. Zum anderen ist die Feindschaft einer mediokren Gegenwart gegen jede Form vom Größe, zuweilen derb schimpfend übrigens, markiert.

Fragt sich freilich hier, ob der sprachliche Aufwand dem Ertrag gerecht wird und vor allem, wie man Alkibiades' ausgedehnte Monologe bühnenwirksam gestalten könnte, so sind Sprache und Bühnenvorgang in Gesine Danckwarts "Meinicht" untrennbar zur Deckung gebracht. Genauer: es gibt keinen Vorgang außerhalb der Sprache (was an die Aufführenden erhebliche Anforderungen stellen dürfte), kaum eine angedeutete Handlung. Die Figuren bewegen sich in sprachlichen und damit ideologischen Mustern, die sie damit demontieren; ebenso sind sie ernstgenommen in ihrer verzweifelten Einpassung in die soziale Rolle wie in manchen oppositionellen Regungen. Hier geht es wieder vor allem um die Geschlechterrollen und ihre Funktion; um Versuche, in ihnen Geborgenheit zu finden, sie zu rationalisieren, sie zu überspitzen; um das Verhältnis von Geschlechterrolle und Markt. Jeder einzelne Satz ist ein Lesevergnügen; in ihrer Abfolge besteht die Gefahr, wie etwa auch bei Elfriede Jelinek, dass die Vergnügen sich gegenseitig übertrumpfen und am Ende ein Rauschen übrig bleibt.

Um Geschlechterkampf geht es, unter anderem, auch in Thomas Hürlimanns "Synchron". Synchron läuft in dem Stück einerseits wenig, jedenfalls nicht die Liebe der Hauptpersonen, nicht die Dialoge und Handlungen. Auf verquere Art ergeben sich dennoch um so mehr Synchronitäten: Indem das Sprechen, die Handlungen aneinander vorbeiklappern, entsteht ein kunstvolles Räderwerk von Zeitebenen, von Wiederholungen und Varianten. Man fragt sich zwar zuweilen, ob den virtuos eingesetzten Mitteln auch ein Inhalt entspricht; das Potential des Textes auf der Bühne aber dürfte erheblich sein, und eine kluge Personenführung mag noch mehr zeigen als sich dem Nur-Leser erschließt.

Sperriger, wohl noch lohnender, wirkt Roland Schimmelpfennigs "Vorher/Nachher". Das Handlungsgerüst bildet ein Seitensprung, der den Anfang vom Ende einer langjährigen Beziehung darstellt. Aber was ist damit gesagt! Episoden lagern sich an, deren Verbindung zum Hauptteil rätselhaft bleibt. Ein Mann etwa, den der Knall einer Glühbirne existentiell erschreckt; eine Frau, die ständig ihre Gestalt ändert; ein geheimnisvoller, aggressiver Organismus und der Jäger, der ihn zu zerstören sucht: all dies verbindet sich auch am Ende nicht und trägt doch zu einer Welt von einem einheitlichem Grundgefühl bei, das zwischen Gefährdung, Vereinsamung und Trost changiert. Immer wieder sind Körper von entscheidender Bedeutung; eine "Frau über siebzig", die den eigenen Anblick nicht mehr erträgt, tritt am Anfang und Schluss des Stückes auf. Dazwischen dann die Fremdheit vor und nach dem Sexualakt; ein grotesker Softporno; aber auch Auftritte eines Paares, das über die eigene leibliche Vergänglichkeit distanziert zu lachen weiß. Für jede Inszenierung ist der Text, der zum großen Teil aus Prosaskizzen besteht, eine Herausforderung, die sich aber lohnen dürfte.

Ergibt sich also ein Gesamtbild? Stilistisch und dramaturgisch zeigt sich größte Vielfalt. Von "großer" Politik ist allenfalls in der Erinnerung die Rede, bei Beltz, im dann dementierten tragödischen Anfang bei Achternbusch, angedeutet nur in den enttäuschten Jugendhoffnungen bei Schertenleib. Die Mikropolitik dominiert: wie Machtverhältnisse in menschliche Beziehungen, in Körperverhältnisse Einzug halten. Das Spiel mit dem Klischee, wie etwa bei Beltz oder Roselt, hat da ebenso sein Recht wie die Sprachkritik bei Danckwart.

Das kann einen Gewinn an Genauigkeit bedeuten, wie ihn unter den gänzlich unpolitischen Stücken, anders als Harbeke, selbst Shepard verbucht. Es markiert jedoch auch einen Verlust: das Theater ist kaum mehr ein Ort, an dem öffentliche Konflikte verhandelt werden. Die Konzentration aufs Intime ist zuallerletzt den Autoren anzulasten: Sie schreiben in einer Gesellschaft, die immer weniger als Gesellschaft besteht, sondern immer mehr in vereinzelte Subjekte zerfällt. Dazu passt, dass Wörter inflationär gebraucht werden, die schon seit längerem keinen Abonnenten mehr aufregen: Wenn unzählige Male Wendungen wie "ficken", "Titten", "Fotze" etc. auftauchen, so wohl halb um die Gewaltsamkeit der Sexualität zu betonen, halb um eine harmlos rebellische Haltung zu beweisen. Der hilflose Wortgestus verweist auf einen Mangel, den nicht das Theater beheben könnte, sondern nur eine Gesellschaft, die den neoliberalen Konsens überwände.

Titelbild

Uwe B. Carstensen / Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Anthologie Aktuelle Stücke 12.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
588 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3596156645

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