Zum Glück der Wunsch!

Die "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" feiert (sich) ab

Von Stephan KleinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Kleiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Geschichte, in Zahlen ist sie schnell erzählt:

Seit 1963, also vierzig Jahre.

Vier Bücher pro Monat, 48 im Jahr.

Über 2.300 Veröffentlichungen.

Insgesamt über 40 Millionen gedruckte Exemplare.

Man könnte das Spiel fortsetzen, doch schnell merkt man, es geht am Wesentlichen vorbei; da fehlt das Fleisch am Knochen.

Nun kann man diese Geschichte auch anders erzählen, als eine Geschichte der Namen: Das klingt auch gut, nämlich so: Enzensberger. Johnson. Walser. Adorno. Barthes. Beckett. Benjamin. Bernhard. Bloch. Brecht. Celan. Frisch. Foucault. Habermas. Hesse. Joyce. Marcuse. Proust. Sartre. Wittgenstein. Noch Fragen?

Und doch hat man sich bei dem Verlag, um den es geht, und dessen Name nun eigentlich gar nicht mehr fallen muss, daran gemacht, Geburtstag zu feiern. 40 Jahre gibt es schon die bunten Bücher, die, 1963 nicht unwichtig, in die Gesäßtasche einer Jeans passen, als hätten Levi Strauss und Lévi-Strauss gemeinsame Sache gemacht und persönlich Maß genommen.

Wie es kommt, dass die Rechtschreibkorrektur aus dem oben versammelten Pantheon zwei Autoren nicht erkennt, das muss unklar bleiben. Ebenso soll hier aus Pietät verschwiegen werden, um welche beiden es sich handelt; wen es interessiert, der möchte selber tippen. Viel wichtiger ist, dass es sich bei den anderen um Namen handelt, die offensichtlich etwas, die viel bedeuten, die der Word-Erkennung und anderen Freunden (hoffentlich) etwas sagen. Dieser Bedeutung hat der Suhrkamp Verlag die angemessene Behausung geboten.

Man könnte diese Geschichte auch wie ein modernes Märchen erzählen, von einem der auszog, alle zweifelnden Thomasse und Cassandras das Fürchten zu lehren.

Mit der Begründung der Linie, die Heinrich Vormweg einmal treffend als die "Intellektuelle unter den Taschenbuchreihen" bezeichnet hat, mit dem gleichzeitigen Erscheinen der ersten 20 Bände im Mai 1963, wurde nicht nur dem Suhrkamp Verlag ein Gesicht, ein Profil, eine Identität gegeben. 40 Jahre "edition suhrkamp", das sind 40 Jahre (linke) deutsche Reflexionsgeschichte, die sich nicht nur in ein aufgeklärtes, kritisches Bewusstsein einschrieben, sondern die Geisteshaltung in diesem Land so entscheidend mitformten, die kritische Vernunft mitgestalteten, immer so hart am Zeitgeist, dass man das Gefühl hat, gerade wenn man nicht zu den Älteren gehört, sie sei schon immer da gewesen.

Woche für Woche hat die Edition mal eben so ein Buch ausgespuckt, als wäre nichts dabei, vierzig Jahre lang. Und doch sehen die Einbände, die in allen Farben des Sonnenspektrums leuchten, so frisch, so innovativ, so neu aus wie zur Zeit ihrer Konzeption. Die minimale Eleganz, die Willy Fleckhaus, der auch schon der "Bibliothek Suhrkamp" ihren reduzierten Klassiker-Look geschenkt hatte, mit der Außenhaut über die Linie stülpte, ist unverwüstlich wie ein Rohrstuhl von Mies van der Rohe, hat Bauhaus und Fluxus gleich viel zu verdanken, trotzt allen modernen Kinkerlitzchen, imprägniert gegen die Wasser des opportunen Marketing, mit denen man bei Suhrkamp schon gleich dreimal gewaschen ist.

Der Suhrkamp Verlag war dabei, sich etwas zu schaffen, was man hässlich corporate identity nennen kann oder schön Profil. Dass man dabei, natürlich immer im Rahmen des gentleman box, mithin etwas offensiver zur Sache ging, erklärt sich wohl nicht nur aus der Aufholposition. Am Anfang der Edition steht der Wille, sich zu etablieren, mit allen Mitteln des Verlags in der Postmoderne. Dabei war immer so etwas wie Leserbindung ganz zentral. Man bot Identifikationsfläche für verwandte Geister, die das Angebot dankbar annahmen. Man wollte dazugehören zur Familie Suhrkamp, man wollte den Regenbogen auch zuhause.

Wieviel dieses Design tatsächlich zum Erfolg der "es" beigetragen hat - man weiß es nicht. Fest steht, dass sich die Idee der Gestaltung so nahtlos in ein geschlossenes Gesamtkonzept eingliedert, dass es einem schon mal mulmig werden kann angesichts solcher, ja auch marketingtechnischer Ausgefuchstheit in der (Selbst-)Darstellung. Die Prinzipien der Serialität instrumentalisierend, dockte man sich direkt dort an die Synapsen einer potentiellen Leserschaft an, wo die Funktionen "Jagen" und "Sammeln" seit einiger Zeit ein bisschen lose herumbaumelten. Und so sehr der Umschlag "sammel mich!" schrie, so sehr erwiesen sich die Inhalte als unverzichtbar für eine Denkrichtung, die auch für Nach-Nachkriegsdeutschland noch so kontinuierlich den Diskurs prägend funktioniert wie wohl keine zweite. Man versuchte sich ein hauptsächlich studentisches Publikum zu schaffen, mit Texten "wie eine, neue vornehmlich jüngere Leserschicht sie bevorzugte, in höheren Auflagen, zu niedrigen Ladenpreisen und in einer Ausstattung, die einfach, kennzeichnend, einleuchtend und attraktiv sein sollte", so Siegfried Unseld damals. Seine "Erlebnisse-Erfahrungen Tübingen/Marburg" dokumentieren seine damaligen Recherchen und Erkundungen zur Rezeption von Taschenbüchern im studentischen Volk. Die "es" war ein gut geplantes Unternehmen, nicht risikofrei, aber kalkuliert.

Eine derartige Reihe, vielmehr das Epitom der Buchreihe schlechthin, die eine Reihe der Reihen, die auch gleichzeitig die Reihe unter den Reihen schlechthin ist, zu gründen, dazu brauchte es einen wie Siegfried Unseld, der die Serie gegen die Skepsis auch seiner Freunde, darunter Frisch, Johnson, Enzensberger, zunächst mehr oder weniger im ideellen Alleingang durchboxte (bei ihm scheint der Ausdruck angemessen) - und der schließlich Recht behalten sollte. "dein Projekt war so bis ins Detail ausgearbeitet, daß wir seiner suggestion erlegen sind", vermeldet Kleinschreiber Enzensberger, auf dessen Konto übrigens auch die Kleinschreibung der "es" geht, kurz nach der Konferenz auf der Wasserburg an Unseld, und man kann sich anhand des kleinen Passus lebhaft vorstellen, wie diese Treffen ausgesehen haben könnten. Der Unseld hat sie an die Wand gespielt.

Da konnte Max Frisch polemisieren, wie er wollte: "Was aber ist dann diese Edition? Es bleibt mir unklar, einmal abgesehen von der Umsatzsteigerung. Suhrkamp in Leinen, Suhrkamp in Dosen, Suhrkamp als Brotaufstrich, Suhrkamp, Suhrkamp, der Name wird grassieren, je weniger er heißt." Damit legte er den Finger auf eine Wunde, die viele bemerkten und beäugten. Aber der totale Kahlschlag (Enzensberger) und Ausverkauf blieb dann doch aus.

Ein Drittel Neuerscheinungen, drei Mark pro Band, so lautete die Grundregel. Günstig sein und aktuell, das Gebot der Stunde. So prägend die "es" für das kulturelle Leben war, so kennzeichnend war für die Serie im Innern der unabdingbare Wille seitens der Macher, sich selbst unentwegt Aufgaben zu stellen, die der unbedingten Lösung bedurften, und deren Lösung man immer mit einer hinter den eigenen Ansprüchen - und welche könnten höher sein - nicht zurückbleibenden Effizienz zuverlässig löste (so geschehen bei den Jubiläumsbänden "es" 1000 und 2000, in der Verwirklichung der zahlreichen spin-offs und Sublinien, etc pp.) Wie es überhaupt eine Mischung aus Zuversicht und Zuverlässigkeit war, die das Mutterschiff Suhrkamp und das Beiboot "es", das sich schnell als ziemlich unsinkbar erwies, letztlich immer durch alle Klippen schleuste. Eine gewisse Manie, eine Freude und Faszination am Prinzip der Serie - das auch gleichzeitig so etwas wie das Prinzip Hoffnung ist - die nahezu ins Obsessive kippen konnte, eine sympathische Liebe zum Zahlenspiel, scheinen im Rückblick letztlich eher als Beschleuniger denn als Bremse gedient zu haben.

Reflexiv ist daran auch die Tatsache, dass die Katze sich hin und wieder in den Schwanz beißen musste, wenn es darum ging, die dominanten Funktionen der Edition zusammenzuführen. Derer sind wohl unumstritten zwei: Zum einen die des "Stichwortgebers", der den politischen, kulturellen oder welchen Diskurs auch immer mit signifikanten, die Diskussionsgrundlagen erweiternden Impulsen beschickte. Zum anderen die der medialen Speichereinheit, des kulturellen Gedächtnisses. In den Archiven des Suhrkamp Verlages liegt eine Geschichte des Bewusstseins, der Wissensbewegungen nicht nur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nichts weniger als eine in dieser Form noch nicht da gewesene Chronik der Zeitläufte, die man im Haus doch selber entscheidend mit beeinflusste und veränderte.

Bei Suhrkamp ging man immer da hin, wo's weh tut: Man fühlte sich, und auch das macht diesen Verlag aus unter allen anderen, zuständig. Was signifikant war, was wichtig war, das wurde umspielt, umgarnt und gebunden (will hier sagen: geleimt), fixiert; erfasst und so oftmals überhaupt erst für den Diskurs erfassbar gemacht. Die Drückeberger, das war schnell klar, sitzen woanders.

Dass diese (auch hier: selbstgewählte) Aufgabe eine ebenso schwere wie undankbare sein würde, das war schnell ebenso offensichtlich. So haben ihre Kritiker dem "Verlag im Verlag" (Unseld) auch immer diesen Rundumschlag, diesen Generalanspruch der Universalität, zum Vorwurf gemacht. Der Anspruch der "Linie" wurde bald angezweifelt. Man unterwerfe sich den Moden und dem ach so wechselhaften Zeitgeist, dem launischen Auf und Ab und Hin und Her ohne roten Faden; Opportunismus sei das, ein verwirrter Eklektizismus, ewig Trends und gedanklichen Strohfeuern aufsitzend: Die Kritik vermisste die Linie in der Linie, den roten Faden, den man schließlich nur in der wenigstens gesichert scheinenden Annahme fand, dass hier ein gewisser Grundgestus herrschte, der irgendwie "links" war. Aus heutiger Sicht ist es überraschend, wie viele der damaligen Rezensionen und Kommentare dieses "Links"-Sein unterstreichend hervorhoben. Heute muss man das nicht mehr. Die "Suhrkamp-Kultur" ist längst zu einem Zeichen für sich selber geworden, und sie als links zu bezeichnen, ist 1. überflüssig, 2. redundant, und 3. ein weißer Schimmel. 1979, mit der "es 1000", gab einen Einschnitt, der für großes Geschrei sorgte unter den Freunden und Familienmitgliedern ersten, zweiten, dritten Grades. Die Verkaufszahlen rückläufig, das Prinzip der Seriellen Nummerierung mit der 1000 an einer signifikanten Marke angelangt, war es Zeit für ein erneutes Überdenken des Unterfangens, das die Edition darstellte. Eine Umstrukturierung wurde bekanntgegeben und auch durchgeführt, allerdings war dies nicht, wie einige befürchteten, und manche vielleicht wünschten, viele jedenfalls schrieben, das Ende der "edition suhrkamp".

Die "Neue Folge" war geboren. Die "es NF" übernahm ab der Nr. 1000, und sie tat es dann doch in letztlich würdiger Nachfolge. Es gab vor allen Dingen Erstveröffentlichungen: verstärkt junge Literatur, mehr Übersetzungen. Eine Öffnung der solitären elfenbeinernen Fenster zur Welt, die zunächst nicht auf viel Gegenliebe stieß: Die kritischen Beobachter befürchteten eine Diversifizierung, die dem Namen und Anspruch einer Linie nicht mehr - oder jetzt noch weniger - gerecht werden konnte. Das erarbeitete Profil würde ausfransen, zerfasern, bleiben würde am Ende: alles - und nichts. Konturlosigkeit statt Scherenschnitt.

Äußerlich änderte sich erst mal nicht viel. Das Regenbogenband lief, ganz im Sinne von Fleckhaus, scheinbar unendlich weiter. Und es würde makellos unter dem am Regal entlanggezogenen Zeigefinger hindurchlaufen, hätte nicht Rainald Goetz, der wunderbare große Spielverderber, seinen Fingerabdruck hineingeätzt: NF 320, also es 1320, zwei Bände, "Krieg" und "Hirn". Ein Umschlag weiß, der andere schwarz, bilden sie eine eigene Komplementärwelt, die zugleich Kommentar wie Fortsetzung wie Erweiterung des monomanischen Farbdiktats ist und die Edition mit den eigenen Waffen schlägt. Auch das zeigt Größe, sich so einen Kuckuck ins Nest zu legen, einen Eigenbrödler, der den eigenen Distinktionsgewinn so hoch ansetzt. Wer es sich leisten kann, dem trojanischen Pferd die Pforten zu öffnen, der hat nicht viel zu fürchten.

Auch das jüngste Kind der Familie kommt eher blass daher, aber die Gründe sind anderer Art. Erstens ist das Bändchen gar nicht in der "edition suhrkamp" selber erschienen, sondern in einem ihrer Tochterverbände. Das "Sonderdruck" auf dem Cover steht eigentlich für eine Subreihe, in der kontroverse Reden - wie Walsers Paulskirchen-Ansprache oder Sloterdijks "Menschenpark"-Text - publik gemacht werden. Kein Regenbogen-Land. Zweitens ist die "edition suhrkamp" immer noch ein Forum für die Kritische Theorie, obschon nicht mehr nur groß geschrieben, in der vorliegenden kleinen Chronik geht man naturgemäß eher unkritisch zu Wege. Und drittens findet sich in dem Weiß des Umschlags natürlich sehr wohl das Sonnenspektrum wieder: Die "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" bündelt die Farben der Einbände, sie sind in ihrer Überlagerung alle vorhanden, als Geschichte alle anwesend. Zur Feier der Stunde ist man bei Suhrkamp noch einmal in die erwähnten Archive hinuntergestiegen, hat sich dort eingeschlossen und alles noch einmal Revue passieren lassen: Peter Suhrkamps gelinde gesagt schwieriges Verhältnis zum "pocket-book"; Unseld, der dann schließlich doch "ja" zum Taschenbuch sagte, und an dessen Virilität und Macherqualitäten diese Geschichte noch einmal erinnert; die Studentenrevolten, die die Edition eng begleitete, die Frankfurter Schule, die Kritische Theorie, die sie beherbergte, das auch schon gar nicht mehr so junge Wort von der Suhrkamp-Kultur, die Neuorientierung mit der "Neuen Folge", die Editionen in der Edition und neuen Formate wie "Sonderdruck" und "Zweite Moderne" und wie sie alle heißen. Vieles war kurzlebiger Natur, wie die Mitteilungen, in denen der Verlag den Dialog mit den Lesern der Edition suchte, und in denen die erste "Geschichte der edition suhrkamp" von Siegfried Unseld erschien, deren Titel man nun frech stibitzt hat. Es bleibt ja in der Familie.

Vieles scheint für die Ewigkeit gemacht. Und wenn die nächste Party ansteht, wenn "es 3000" erscheint, und erst in zehn Jahren, wenn die große 50 zu feiern ist, und wieder 50 Jahre später, bei der großen 100-Jahr-Feier, wenn Suhrkamp 5000 schon längst erschienen ist, dann werden wieder alle monieren, wo die Substanz bleibe, und die "es" wird immer noch da sein und einfach weiter machen, als wäre nichts dabei, und ihr Gedächtnis weiter ausbauen und ins Gedächtnis der Welt einschreiben.

Der Leser kann jetzt ein Stück dieses Gedächtnisses wiederum selbst archivieren, das Gedächtnis des Gedächtnis ist ins mediale Gedächtnis gegossen für jeden Privatarchivar günstig zu haben. Man kann da viele Stimmen nachlesen, wohlwollende und missgünstige, kann rekonstruieren und staunen. Und sich fragen, wie wir eigentlich alle sprechen würden, hätte es die edition suhrkamp nicht gegeben, mit welchen Begriffen man sich bewaffnen würde im täglichen Kampf gegen die unerbittlichen Mühlen der alltäglichen Abstumpfung.

Dabei ist diese Geschichte, und das muss wohlweislich getrennt werden, ganz dezidiert nicht die Geschichte des Verlags selber. Man vergisst das manchmal, denn wie oben erwähnt hat die edition dem Verlag zu großen Teilen sein Gesicht geschenkt, so dass man auch die - in Wirklichkeit natürlich auch untrennbaren - Schicksale ständig im Kopf überkreuzt.

Um Querelen und Verlagsinterna wird jedoch in dem Büchlein ein weiter Bogen geschlagen, was dem Leser zwar die eine oder andere schöne Anekdote vorenthält, aber aus mehreren Gründen geboten und verständlich ist. Mehr als die Geschichte der Edition war nie versprochen, sie gilt es schließlich zu feiern. Und dennoch hätte man sich etwas mehr Kontext gewünscht, wäre Aufklärung über einige Entscheidungszusammenhänge dienlich gewesen. So endet die Geschichte auch mit einem ziemlich abrupten Schnitt, die "Neue Folge" wird gerade noch vorgestellt, dann ein paar Sätze zu den Neunzigern wie: "Auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur steht die edition suhrkamp in den neunziger Jahren hauptsächlich im Zeichen der Lyrik." Das bleibt ein wenig uneindeutig, und zudem wird da die jüngere und jüngste Geschichte mal eben so im Zeitraffer wegerzählt, als wäre da gar nichts gewesen. Oder wollte man nur, zahlenverliebt wie man ja bei Suhrkamp ist, möglichst genau die 100 Seiten voll machen und hat den Rest hinten abgeschnitten? Wie gesagt: Dass man die Stromschnellen, die das Mutterschiff gerade in letzter Zeit zu überwinden hatte, mal außenvor lässt, geschenkt, aber die weißen Stellen in der jüngsten Geschichte vermitteln den Eindruck, dass mit Erscheinen der "Neuen Folge" und danach eben doch nichts mehr kam. Das wirkt beinahe wie ein - wenn auch nur kleines - Schuldeingeständnis, oder eine Konzession an die, die das ja schon immer gesagt haben.

Es gibt sie schon so lange es die "es" gibt: Diejenigen, die immer behaupteten, das sei alles gar nicht so weit her mit der Signifikanz, der Dominanz, der Effizienz. Sie kommen in der "Kleinen Geschichte der edition suhrkamp" auch zu Wort, werden herbeizitiert, ihre Befürchtungen und Anfeindungen wiederholt, um dann sagen zu können: Und, seht ihr, alles falsch, alles Unsinn, hier stehen wir immer noch, um das Gegenteil zu beweisen.

Und doch wollen die kritischen Stimmen nicht verstummen, die der Edition vorwerfen, dass es zumindest mit ihrer vielgerühmten skalpellscharfen Kritik gar nicht so weit her ist dieser Tage, dass es gar nicht so gut bestellt ist um die einstige "Speerspitze" (Unseld) nicht nur des Suhrkamp Verlags.

Als man 1962 das Parkett des Taschenbuch-Handels betrat - wobei die Bezeichnung "Taschenbuch" zunächst tunlichst vermieden wurde - war man bei Suhrkamp Nachzügler. Rowohlt, Fischer, Heyne - alle hatten sie ihre Taschenbuchlinien. Schließlich kam dtv, als Lizenzbaustelle und zweitverwertender Gemischtwarenladen. Spätestens da war es Zeit, mitzureden. Eine Konkurrenz musste her, und die machte sich nicht gerade zögerlich auf den Weg. Das Feld wurde von hinten aufgerollt, man zog schnurstracks durch bis zur Avantgarde.

Frankfurt war auf der Karte erschienen, und dort blieb man, tonangebend, bis ... Ja, bis wann eigentlich? Bis man den Biss einbüßte, sagen die kritischen Beobachter, so kürzlich Thomas Steinfeld in der "Süddeutschen Zeitung".

Hier hat man den kritischen Blick in Richtung Frankfurt geübt und postuliert, wie viele es vorher taten und seit Jahrzehnten tun: das Ende vom Ende. Und übersieht dabei mal eben, dass man sich schon wieder eingliedert in den Reigen derer, die schon wieder über die Reihe schreiben, zu der es doch längst nichts mehr zu sagen gibt. Es ist schlicht falsch zu behaupten, die Linie lebe nur noch vom Glanz früherer Tage. Vielleicht muss der kritische Laser tatsächlich wieder einmal nachjustiert werden, damit der kritische Leser wieder zufrieden ist mit den präzisen, feinziselierten Elaboraten der Denkingenieure. Vielleicht braucht es wieder einen neuen Adorno oder Benjamin, um unserer Zeit den Weg zu leuchten. Aber wahrscheinlich wird andersherum ein Schuh draus:

Die Texte der "edition suhrkamp" funktionieren nach wie vor als ein Spiegel unserer Zeit, ob uns das passt oder nicht. Sie dafür zu rügen, heißt den Boten für die Nachricht bestrafen. Wir leben in einer nachkanonischen Welt. Das vielfach Unbestimmte, das mehrfach Gebrochene, das manchmal kopflose Stöbern, das Suchen im Leeren und Fischen im Trüben; das alles findet Eingang in die jüngeren Texte, weil es uns ständig umgibt, weil eine Essenz des Wirklichen eben auch immer das mit darstellen muss. Weil das All aus Materie und Antimaterie nun mal geformt ist, weil das Licht der Sonne Schatten wirft und man Schatten nicht beleuchten kann und weil alles, was neu war, irgendwann zwar nicht gleich alt sein muss, aber deswegen auch schon lange nicht mehr neu: Deswegen muss die "edition suhrkamp" weitermachen. Und weil die Serie, so ihr Prinzip, immer weiterlaufen und die Jubiläen immer weiter gefeiert werden müssen, weiter und immer weiter. Weil Rituale das Leben parieren und ertragbar machen. Weil es irgendjemand schließlich machen muss. Und weil es sowieso niemals ernsthaft in Frage stand.

Die jetzt erschienene "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" will kein Denkmal sein für diese modernen Nachfahren des Sisyphos, die den Stein des Anstoßes mit Sicherheit auch weiterhin ohne Unterlass jeden Berg hinaufrollen. Sie ist eher so was wie die Inschrift auf dem Sockel. Auf diesem aber steht die wahre Statue:

40 Jahre.

4 Bücher im Monat, 48 im Jahr.

Über 2300 Veröffentlichungen.

Über 40 Millionen gedruckte Bücher.

Die Damen und Herren bei Suhrkamp meißeln täglich weiter daran.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Vierzigsten, edition suhrkamp!

Auf die nächsten Zehn!

(Und dann weitersehn.)

Titelbild

Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Redaktion: Raimund Fellinger. Sonderdruck edition suhrkamp.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
102 Seiten, 4,00 EUR.
ISBN-10: 3518067192

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