Theologie nach Auschwitz

Die dritte Generation "theologischer Stimmen" versucht Versäumtes nachzuholen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie ist heute von Gott zu reden - im Land der Täter?" fragt der katholische Theologe und Bildungsreferent Norbert Reck und ist sich mit den anderen Autorinnen und Autoren dieses Buches darüber einig, dass die Rede von Gott in unserem Land seit Auschwitz "alle Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit" eingebüßt hat. Allerdings dauerte es nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes noch lange, ehe diese Tatsache christlichen Theologen bewusst geworden ist. Nur wenige von ihnen haben sich in Deutschland nach 1945 ernsthaft mit dem systematischen Versuch der Ermordung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure auseinander gesetzt.

Erst in den siebziger Jahren entstand eine "Theologie nach Auschwitz", mit der sich Theologen wie Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann einer Kultur des Vergessens und Verdrängens widersetzten und sich um die Erneuerung eines jüdischen-christlichen Gesprächs bemühten. Andere wie etwa Peter von der Osten-Sacken, Charlotte Klein, Bertold Klappert, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Clemens Thoma und Martin Stöhr widmeten sich den ideengeschichtlichen und ideologischen Verbindungen zwischen dem traditionellen Judenhass des christlichen Abendlandes und dem rassistischen und genozidalen Antisemitismus der Nationalsozialisten und verlangten eine Neuformulierung des christlichen Glaubens. So wurde durch Theologen der "zweiten Generation" das Bewusstsein für die jüdischen Opfer der Shoah sensibilisiert und dem mehrheitlichen Diskurs über den Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft widersprochen. Denn das Verhalten in dem vom Krieg zerstörten und im Wiederaufbau begriffenen Deutschland war nicht nur durch die von Mitscherlichs beobachtete und viel beschworene "Unfähigkeit zu trauern" geprägt, sondern auch von einem Diskurs, der darauf abzielte, die Deutschen als ein "leidendes Volk" zu begreifen. Bis weit in die sechziger Jahre hinein war man immer wieder versucht gewesen, die Deutschen ausschließlich als Opfer des Krieges hinzustellen und war angesichts der Shoah, wie Metz es nannte, von einer "erstaunlichen Verblüffungsfestigkeit".

In der zweiten Generation reagierte man also zunächst mit Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und einer Annäherung an das Judentum. Indessen haben es dabei viele versäumt, wie etwa auch Metz, die eigene Situation generationsspezifisch und familiengeschichtlich im NS-deutschen und nachkriegsdeutschen Kontext genau und gründlich zu bedenken. Ausgeblendet blieben oft die Jahre vor 1944 in der eigenen Familie. Juden oder andere rassisch Verfolgte tauchen daher in Familiengeschichten selten auf. Man erfährt kaum, ob und wie lange die Familie Kontakt zu Juden hatte, ob sie tatenlos beim Abtransport zusah oder sogar tatkräftig bei der Verfolgung mithalf. Wohl gab es in den Familien Erzählungen über Krieg, Bombennächte, Flucht und Hunger, aber die Euphorie und leidenschaftliche Hingabe der arischen Herrenmenschen an Theorie und Praxis nationalsozialistischer Ideologie blieb weitgehend ausgespart.

Inzwischen ist eine Generation von Theologinnen und Theologen nachgewachsen, die die Impulse einer "Theologie nach Auschwitz" aufgegriffen, modifiziert und erweitert hat. Vor allem will sie die bei der zweiten Generation zu beobachtende "Subjektverbergung in der Theologie" nicht mehr länger hinnehmen. Vielmehr ist sie darauf bedacht, Abschied zu nehmen von der bisherigen familienbiographischen Unschuld und Widerstand zu leisten gegen eine Kultur des Vergessens im familiären Rahmen, um an Authentizität zu gewinnen, ohne das Anliegen einer "Theologie nach Auschwitz", nämlich Sensibilisierung für Opfer und Leidende, zu vernachlässigen. Mit anderen Worten: Die dritte Generation möchte die Theologie nach Auschwitz um eine familienbiographische Positionierung erweitern, damit auch die Tätergeschichte in das Blickfeld kommt, samt christlicher Mitläuferschaft und Zuschauertum sowie Missbrauch der Gottesrede in der NS-Zeit. Denn Auschwitz darf, trotz gegenläufiger Rhetorik, nicht zur Metapher verkümmern, mahnt der evangelische Theologe Björn Krondorfer in dem Sammelband "Von Gott reden im Land der Täter".

Letztlich habe die theologische Rede von Schuld und Vergebung nur dem Täterschutz gedient, meint Katharina von Kellenbach und nimmt die kirchlichen Stellungnahmen gegen die alliierte Strafverfolgung der Kriegsverbrecher in Nürnberg, die Geheime Denkschrift der EKD von 1949, zum Ausgangspunkt ihrer Analyse christlicher Theologie und Praxis, die "Versöhnung" zum höchsten Gut erhoben und politisch wirksam eingesetzt habe, ganz im Interesse der Täter, womit diese wiederum der Verantwortung enthoben gewesen seien.

Vier Bereiche werden in dem Werk thematisiert. Im ersten Abschnitt geht es um "Verortung: Perspektiven und blinde Flecken". In diesem wird der Standpunkt des katholischen Dogmatikers Michael Schmaus (1897-1993) ausführlich erläutert. Schmaus hatte unmittelbar nach dem Krieg behauptet, im Holocaust sei Gott am Werk gewesen, um sein Volk zu Christus zu bekehren. Damit wären die Deutschen unschuldig und "nur Gottes Vollstrecker. Der Täter ist Gott", merkt Norbert Reck an und fügt hinzu, dass Schmaus mit seinen Ansichten beileibe kein Einzelfall gewesen sei.

Georg Taxacher plädiert dagegen für eine "Globalisierung" der Theologie nach Auschwitz. Sarah K.Pinnoch, Amerikanerin der dritten Generation, gibt zu bedenken, dass eine christliche Antwort auf den Holocaust die Partikularität und Einzigartigkeit des Leidens stärker beachten müsse und diese nicht in einem christlichen Heilsgeschehen universalisieren dürfe. Ein Fehler der Theodizee liege darin, Zeugnisse sinnlosen Leidens zu übergehen und dreist Gründe für das Leiden und seine Heilsbedeutung anzuführen, wobei man Gefahr laufe, die Stimmen der Opfer zu verraten. In ihrer kritischen Analyse der Theologie der zweiten Generation nach Auschwitz führt die Verfasserin dieses Beitrags die Grenzen christlicher Theodizee-Vorschläge deutlich vor Augen.

Zum zweiten Themenbereich "Das Eigene und die Anderen im jüdisch-christlichen Gespräch" steuern Barbara Meyer und K.Hannah Holtschneider kritische Anmerkungen zur Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts bei. Paul Petzel wiederum stellt Überlegungen zur Beziehung von Theologie nach Auschwitz und der Befreiungstheologie an, während Britta Jüngst eine feministisch-theologische Standortbestimmung wagt und im Antijudaismus ein bleibendes Thema sieht.

"Von Zeugen und Zeugnissen" handelt der dritte Teil. Dagmar Mensink macht sich Gedanken über die Autorität von Holocaust-Zeugnissen für die Nachgeborenen. Reinhold Boschki verweist auf die Bücher von Elie Wiesel, die als Botschaft eines Überlebenden ein wichtiges Initial enthielten für religiöses und ethisches Lernen nach Auschwitz. Katja Schubert wiederum befasst sich mit Ruth Klügers Erinnerungsbuch "Weiter leben".

Im vierten Teil "Rituale und Orte der Erinnerung" werden diese unter dem Blickwinkel der Täter und Opfer sowie ihrer Nachkommen analysiert. Elisa Klapheck legt ihr jüdisches-feministisches Selbstverständnis nach der Shoah dar, Tania Oldenhage äußert sich zum Umgang mit jüdischen Texten in christlichen Kontexten und Constanze Jaiser über den mit christlichen Glaubenszeugnissen aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.

Bei aller Vielgestaltigkeit der einzelnen Arbeiten ist die biographische Gemeinsamkeit der in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren augenfällig. Alle wurden zwischen 1954 und 1971 geboren und verstehen sich als "Post-Holocaust-Denker". Sie kennen die NS-Zeit nicht aus eigenem Erleben und sind schon mit dem Bewusstsein aufgewachsen, "nach dem Holocaust" als Enkelgeneration jener zu leben, die in der NS-Zeit erwachsen waren. Reden sie von Opfern und Tätern, so meinen sie die Generation ihrer Großeltern.

Engagiert, aber ohne in Selbstgerechtigkeit zu verfallen, gehen sie mit den Versäumnissen ihrer Vorgänger scharf ins Gericht. Die Verfasser der hier abgedruckten Aufsätze - die meisten haben Theologie studiert - lassen in ihre Überlegungen und Darstellungen ihre Lebensgeschichte und eigene Erfahrungen mit Holocaustüberlieferungen mit einfließen und fragen gleichzeitig nach Einflüssen der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auf ihr eigenes Selbstverständnis. Hin und wieder kommt es in dem, mit vielen Anmerkungen und Literaturhinweisen versehenen Band zu kleinen Überschneidungen und leichten Widersprüchen zwischen den einzelnen Beiträgen.

Titelbild

Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.): Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2001.
304 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3534157702

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