Das ganz Andere des Immergleichen

Vorträge über die Erfindung von vermeintlich Selbstverständlichem

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Könnte es nicht auch anders sein?" Man müsste, um diese Frage sinnvoll stellen zu können, erst einmal wissen wie es ist. Anders als der Titel einer an der Offenen Akademie der Münchner Volkshochschule veranstalteten Vortragsreihe und des aus ihr hervorgegangenen Sammelbandes vermuten lässt, fragen die Referenten und Autoren denn auch weniger danach, ob und inwieweit alles oder doch zumindest einiges anders sein könnte als es ist, sondern vielmehr danach, wie es kam, dass etwas so ist, wie es eben ist. Denn allein darum, weil etwas als normal empfunden wird, ist es schließlich noch lange nicht selbstverständlich. So wenden sich die Autoren also meist lange zurückliegenden "Erfindungen" zu: wie etwa derjenigen der Schrift, der Politik, der Stunde, des Lernens, des Spiels oder der Null, wenn sie nicht gar der "Entdeckung der Zukunft" nachgehen. Dabei sind, wie nicht anders zu erwarten, Beiträge recht unterschiedlicher Qualität entstanden.

Nicht von ungefähr haben die Herausgebenden den Vortrag von Jochen Hörisch an den Anfang des Buches gesetzt. Beginnt er seine Erörterung der "Erotik des Geldes" doch nicht nur mit ganz grundsätzlichen Überlegungen über das Selbstverständliche und das Offenbare, das doch auch ganz anders sein könnte, sondern trägt deren Paradoxa in launigen Wortspielen vor, so dass sogleich das Interesse an weiterer Lektüre geweckt wird.

Ebenso eloquent wie Hörisch zeigt sich Karlheinz A. Geißlers Text über die "Erfindung des Lernens". Allerdings gelingt es seiner Beredsamkeit nicht, über manche Schwäche der Argumentation hinwegzutäuschen. Nur mit einer gewissen Geschichtsblindheit lässt sich etwa behaupten, dass sich die Gefährlichkeit des Lernens erst mit dem Erwerb des Pilotenscheins durch die Terroristen vom 11.9. offenbart habe; mussten sich doch auch die Bomben bastelnden Nihilisten des 19. Jahrhunderts die für ihr Vorhaben notwendigen Kenntnisse etwa über die Zusammensetzung von Sprengstoffen aneignen. Auch dass dem "spätmoderne Mensch[en]" das Lernen als "Religionsersatz" und die Wissenschaft als "Substitut für die kirchliche Anbindung" diene, ist nicht recht nachzuvollziehen; und das weniger, weil die Ergebnisse der PISA-Studie die Vermutung nahe legen könnten, dass Lernen als Religionsersatz allenfalls ein kärgliches Sekten-Dasein führen würde, sondern weil Geißlers Begründung auf wackligen Beinen steht. Denn der Glaube hat Geißler zufolge nicht etwa "abgenommen", noch sei er gar durch das Lernen ersetzt worden. "Wir glauben vielmehr ans Lernen", meint der Autor, der sich vor der gläubigen Gemeinde der Volkshochschulhörer offenbar gerne als Ketzer gibt. Doch ist nicht jeder Ketzer der Wahrheit so nahe wie er wähnt, und der von ihm beschriebene Glaube nicht einmal unbedingt ein Glaube. Denn dieser gilt gemeinhin gnädigen oder grollenden Göttern, vielleicht auch Heiligen, die möglicherweise durch Gebete hilfreich gestimmt werden können. Doch daran muss man eben glauben - wissen kann man es nicht. Daran, dass Lernen hilfreich sein kann, muss man hingegen durchaus nicht glauben; das kann man lernen und aus Erfahrung wissen.

Versteht Geißler seine Irrlehre vom Lernen als Glaube immerhin unterhaltsam vorzutragen, so fühlt man sich bei manch anderem auf das harte Holz der Schulbank gezwängt, wo man einem etwas drögen Geschichtslehrer zuhören muss. Das kann zwar durchaus lehrreich sein kann, ist jedoch kaum unterhaltsam, und man sehnt schnell das Ende der Schulstunde herbei. Die meisten der Autoren zeichnen sich allerdings weder durch besondere rhetorische Fähigkeiten aus, noch quälen sie mit trockenen Unterrichtseinheiten, sondern offerieren in solide gebauten Vorträgen allgemeinverständlich dargebotenes Fachwissen über das Ungewöhnliche des vermeintlich Gewöhnlichen. So referiert der Historiker Lucian Hölscher noch einmal die wichtigsten Thesen seines Buches "Die Entdeckung der Zukunft" (vgl. literaturkritik.de 7/2000); während der Ägyptologe Jan Assmann den Lesenden die kaum zu unterschätzende Bedeutung der Erfindung der Schrift nahe bringt, auf dass sie die weltenstürzende Bedeutung des gegenwärtigen Übergangs vom Zeitalter der Schrift- zur Digitalkultur ermessen können. Wobei Assmann dezidiert betont, dass die entscheidende "kulturrevolutionierende Innovation" in der Erfindung der Schrift schlechthin bestand, nicht etwa im Alphabet, wie dies beispielsweise die von ihm allerdings nicht genannte Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun vertritt (vgl. literaturkritik.de 1/2002). Eine Auffassung, die Assmann für eine "eurozentristische Verzerrung" hält, "von der wir uns frei machen sollten".

Titelbild

Karlheinz A. Geißler / Stefanie Hajak / Susanne May (Hg.): Könnte es nicht auch anders sein? Die Erfindung des Selbstverständlichen.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2003.
157 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3777612243

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