Phänomenologie kompakt

Bernhard Waldenfels Anthologie zeigt Husserl bei der Arbeit

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernhard Waldenfels, der mithin wichtigste Vertreter der gegenwärtigen deutschen Phänomenologie, hat in dem Band "Arbeit an den Phänomenen" Texte aus dem nur schwer überschaubaren Werk Husserls herausgegeben. Dabei orientierte sich Waldenfels an seiner eigenen Sicht der Phänomenologie, die er hier anhand der Originaltexte des 'ersten' Lehrers der Phänomenologie im thematischen Aufbau präsentiert. Positiv fällt ins Gewicht, dass er sich dabei weder von der Textchronologie noch von kursierenden Einteilungen des Husserlschen Schaffens in 'Phasen' irritieren lässt. Briefentwürfe, wie Nachlassfragmente, Vorlesungstexte und von Husserl zu Lebzeiten publizierte Texte stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Die von Waldenfels gezeichnete Linie führt von Husserls Fassung einer Bedeutungs- und Ausdruckstheorie über das phänomenologische Scharnier der 'Intentionalität', zum Husserlschen Wahrheitsbegriff, von dort aus über den phänomenologischen Erfahrungsgrundsatz und der Bildtheorie, hin zur die Kritik des Cartesianismus durch Aufweis der konstitutiven Rolle von Körperlichkeit, Intersubjektivität und der (Lebens-)Welt für 'Bewusstsein', bis schließlich zum - für viele bei Husserl noch immer unvermuteten - Geschichtsdenken. Vorangestellt ist ein Auszug aus Husserls legendärem Aufsatz aus der Zeitschrift "Logos" von 1911 mit dem Aufruf an die Philosophie zur Selbstbesinnung, in der er gegen die seinerzeit grassierende, 'irrationale' Weltanschauungsphilosophie Front machte. Fast gänzlich fehlt Material zu dem für Husserl zentralen Problem des 'Raumes' bzw. der Raumkonstitution: Dieser kommt für Waldenfels bei Husserl nur als 'Welt' im Bezug auf den 'Anderen' in Betracht, nicht zunächst auch als Ortskonstituens der 'Dinge'.

Knapp und konzis werden die Texte im Anhang von Waldenfels erläutert und die Herkunft aus den Quellen nachgewiesen. Auch werden jeweils kurz die Kontexte beschrieben, in denen die Texte situiert sind, und hingewiesen auf spezielle Rezeptionsstränge, die sich an die ausgewählten Passagen anschließen. Durch Angabe der Originalpaganierung sowie der Seitenumbrüche ist die vorliegende Ausgabe voll zitierfähig.

Waldenfels hat sich bei seiner Auswahl von dem Kriterium leiten lassen "thematische" und "problematisierende", statt "methodische" oder "systematische" Texte aufzunehmen. Entsprechend fehlen beispielsweise 'Klassiker' wie Husserls "Encyclopeadia Britannica"-Artikel, der einen Überblick über das phänomenologische Anliegen und Vorgehen gibt. (Wer diese Texte sucht, sei an die zweibändige Reclam-Auswahl von Klaus Held aus dem Jahre 1985 [Reprint 1998] verwiesen.) Das Nachwort von Waldenfels widmet sich entsprechend der durch die Texte präsentierten Kreuzungs- und Verweisungspunkte auf die "Verstrickung in der Erfahrung". Auch hier sollte man nicht erwarten, einen systematischen Überblick über Husserls Denkweg zu bekommen. Vielmehr zeigt Waldenfels darin die Grenzen von Husserls Ansatz auf.

Verschwiegen wird, dass es sich bei dem Band um den Reprint einer Taschenbuchausgabe von 1992 aus dem S. Fischer Verlag handelt, der keine Neuauflage der Anthologie erwog. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es nicht zu einem erheblichen Preissprung durch die nun gebundene Ausgabe gekommen wäre, der vor allem die vorrangige Zielgruppe der Studierenden treffen wird. Ferner fällt dieser Band aus dem Konzept der phänomenologisch orientierten Reihe "Übergänge", die seit 20 Jahren im Fink-Verlag existiert (und der wichtige Texte von Anselm Strauss, Merleau-Ponty, Paul Ricœur, Jacques Derrida, Aaron Gurwitsch und anderen zu verdanken ist), heraus, da es sich erstmals weder um einen bislang unübersetzten Originaltext handelt, noch um herausragende Sekundärliteratur. Insofern verwischt der vorliegende Band, seiner hervorragend Ausführung zum Trotz, die Grenzen der Reihe.

Titelbild

Edmund Husserl: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften.
Herausgegeben von Bernhard Waldenfels.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
282 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770537610

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