Der Stacheldraht zwischen Identitäten
Ein Sammelband untersucht "Judentum und Antisemitismus in der Literatur und Germanistik Österreichs"
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem am 17. November 1984 in Ljubljana gehaltenen Vortrag "Judentum als Erinnerung und Widerstand" beschreibt der 1944 geborene österreichische Schriftsteller Robert Schindel aus der Perspektive des Nachgeborenen äußerst prägnant den jüdischen Generationskonflikt, der um die Mitte der siebziger Jahre zum Ausbruch kam, als eine "Rebellion gegen das Ghetto-Dasein der Eltern" (Ruth Beckermann) einsetzte, deren Lebensweise zu einem nicht unwesentlichen Teil als stillschweigende Anpassung an die österreichische Gesellschaft empfunden wurde: "Von 8.000 registrierten Juden und allerhöchstens doppelt so vielen, die sich selbst als Juden bezeichnen, soll ich, der Nachkomme dieser assimilierten Juden, mich ebenso assimilieren? Werd ich so zum Vollender der Hitlerschen Judenvernichtung, indem ich mich auch noch lossage? Ich, der Übriggebliebene, weg von den Übriggebliebenen und hinein ins Österreichische? Ein Wiener unter Wienern, dem diese Wiener allerdings ins Gesicht schauen und fragen: Na, du alter Hebräer. Hut ab, wie deine Israeli mit den Arabern umspringen?!" Schindel beschreibt seine stets prekäre jüdische Identität als ein prozessuales und relationales Phänomen, das primär als Einschreibung in das Körper-Gedächtnis wahrgenommen wird: "Aber was verbindet mich mit meinen beleidigten, gequälten, deportierten, vergasten und erschossenen Vorfahren, von denen ich nicht einmal ein Bild habe? [...] Fremd, wahrlich fremd sind mir meine eignen Wurzeln; schon meine Mutter hat sie abgeschnitten, aufgelöst im Internationalismus des Klassenkampfes, dessen Stalinsche Ausformung sie selber als Jüdin unter Umständen wegen Kosmopolitismus verfolgt hätte. Nichts als eine phantastische, pränative Erinnerung bleibt mir, ein stumm tickendes kulturhistorisches Gedächtnis, welches vorerst wohl eher in der Brust als im Kopf sitzt. Es ist das Zerrissene, das in den Boden Gestampfte, das mich mit meinen Vorfahren verbindet. Die Baßgeige des Juden am Pruth? Irgendein Jude vor vielen Jahrzehnten und irgendeine Baßgeige! Aber die Übriggebliebenen, gleich mir vom Rost Gesprungenen, die im Mutterleib Emigrierten, die nach dem Krieg als ein trotziges 'Dennoch' Geborenen, was verbindet mich mit denen? [...] Uns alle verbindet das Sterben. Kein Jude in Österreich, dessen Familiengeschichte nicht von einer barbarischen Monotonie ist: vertrieben - verschollen - zufällig überlebt. Wenn wir uns anschauen, wissen wir: Auch du? Wenn wir reden, wissen wir: Kein Antisemit, ein Mensch mit Gedächtnis. Das ist nicht eben häufig in Österreich."
Neben der Erinnerung nennt Schindel im Folgenden noch zwei weitere Kategorien des Judentums, die für die Nachgeborenen entscheidend seien: die Kategorien des Widerstands und der Heimat. Judentum als Widerstand ist für Schindel "nicht das bloße Judesein gegenüber dem Antisemitismus", vielmehr handele es sich hierbei erstens um "die Erinnerung an die Traditionen, die da auch und vor allem sind: Humanismus, Toleranz, Emanzipation, soziales Engagement und dieses Perhorreszieren zwischen Mensch als Staatsbürger und Mensch als Privatperson" sowie zweitens um den "Zusammenschluß mit den Beleidigten, Verjagten, Vernichteten, und damit die schöpferische Wiederaneignung der eigenen Wurzeln". Schließlich komme als letzter Schritt hinzu, "Heimat zu produzieren inmitten der Heimatlosigkeit selbst. Hier geht es um den Unterschied, der darin besteht, ob ich eine Heimat vorfinde, in sie hineingeboren werde, oder ob ich eine Heimat nach und nach erst produzieren muß, in die vorgefundene Umwelt hinein, denn diese Umwelt hat uns Juden stets gelehrt, daß sie unsere Heimat nicht sein mag."
Die von Schindel angedeuteten Widersprüche in der Fixierung eines Selbstbildes bestimmen auch eine neuere, von Anne Betten und Konstanze Fliedl herausgegebene Untersuchung zur Interdependenz von "Judentum und Antisemitismus in der Literatur und Germanistik Österreichs", die auf Referate bei der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik vom 13. bis 15. Juni 2001 in Wien zurückgeht. Das Tagungsthema, so ist im Vorwort zu lesen, sollte vor allem österreichische Wissenschaftler im In- und Ausland zu einer Bilanz über den Stand der Auseinandersetzung mit diesen für das Selbstverständnis ihres Faches zentralen Fragen anregen. Wie Konstanze Fliedl in ihrer Einleitung zu Recht hervorhebt, kann dabei der Begriff 'Judentum' "als - historisch oder geographisch bestimmbares - Kollektiv oder aber als ein - subjektiver oder objektiver - Begriff vom 'Jüdisch-Sein' verstanden werden, was als Vorentscheidung ins Spiel kommt. Zwischen Fremd- und Selbstbild, zwischen Relevanz und Irrelevanz tut sich dann ein Spektrum von Optionen auf." Die Beiträger verdeutlichen in ihren Untersuchungen, dass diese Auseinandersetzung in der Literatur- und Kulturgeschichte Österreichs zuerst in den Werken und Schriften jüdischer Autoren selbst geführt wird, sei es vor oder nach der Zäsur durch die Shoah, sei es in der Gegenwart. Während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Österreich der jüdische Diskurs zum Paradigma des 'modernen' Ich formierte, als Modell von bedrohter Identität und Alterität und zugleich als Fremdbild entworfen wurde, stand nach der Shoah die jüdische Identität der Überlebenden und ihrer Kinder im Grunde nicht mehr zur Wahl, sie war fortan von Loyalität zur Schicksalsgemeinschaft geprägt. Viele Exilierte und Verfolgte zogen die Rückkehr in das Land ihrer Kindheit oder Jugend nicht mehr in Betracht. Rechenschaften über das eigene 'Jude-Sein' fielen dabei mitunter radikal aus. Für Jean Améry lässt sich seine Identität nur noch als "Katastrophen-Judesein" beschreiben: "Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlichere Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: Ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten."
Dass Österreich sich nach 1945 nicht sonderlich bemühte, diese Fremdheitsgefühle zu mildern und den Überlebenden und zurückkehrenden Emigranten wieder Heimat zu werden, zeigte sich, wie Fliedl unterstreicht, an den unendlichen Rückstellungsdebatten und an dem fatalen Schweigen, das sich über die eigene Vergangenheit ausbreitete. Da Österreich sich auch selbst zu den von Deutschland angegriffenen Staaten rechnete, setzte es aufgrund dieses konstruierten Opfermythos eine Diskussion über Jahrzehnte aus, was zur Folge hatte, dass das Verhältnis von jüdischer und österreichischer Identität in der Sicht der zweiten Generation von Juden nach der Shoah neu, aber nicht prinzipiell anders geregelt wurde. In seinen "Wiener Vorlesungen" stellt Robert Schindel diese heterogenen Momente der Identität nebeneinander: "Nicht jüdisch erzogen, war ich dennoch Jude. [...] Eigentlich bin ich Jude bloß, weil die andern mich dazu gemacht hatten, Hitler und die von ihm Erzogenen. Eigentlich bin ich Jude, weil seit Generationen meine Vorfahren Juden waren, gläubige, säkularisierte zuletzt, als Juden angesehene immer und sich bis zu Großvater Salomon als Juden fühlende. Kurzgut, es gibt Juden, sogar als Volk, und ich bin einer von denen, da kann ich noch so sehr Österreicher, besser gesagt, Wiener sein." Obwohl es seit Mitte der Achtziger Jahre - angestoßen durch die Affäre um den österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim - erstmals öffentliche und offen geführte Debatten über Österreichs Mitschuld an dem Genozid vor 1945 und dem Mnemozid nach 1945 gibt, scheint es nach wie vor unmöglich zu sein, jüdische und österreichische Identität miteinander zur Deckung zu bringen. Erst jüngst notierte der 1961 in Tel Aviv geborene und in Wien lebende Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici: "Was ein Jude ist und was ein Österreicher, das ist nach 1945 neu definiert. Das Judentum ist zwar Jahrtausende alt, doch ist es nach dem Massenmord und nach der Entstehung des Staates Israel ein anderes geworden. Die Doktrin von der österreichischen Nation hat sich erst mit dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" durchgesetzt, als jeglicher Anschluß an die großdeutsche Vergangenheit nicht mehr allzu verlockend schien. Die gemeinsame Geschichte definiert die jüdische und die österreichische Gegenwart, verläuft wie Stacheldraht zwischen beiden Identitäten."
Akribisch folgen die einzelnen Beiträge zuerst der literarischen, dann der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung in Österreich. Hervorzuheben sind hier vor allem Günther Scheidls Untersuchung der "Renaissance des 'jüdischen' Romans nach 1986", die sich der Identitätssuche jüdischer Figuren der zweiten Generation widmet, wie sie in Schindels Roman "Gebürtig" (1992) und Rabinovicis "Suche nach M." (1997) geschildert werden, sowie Werner Michlers Analyse der Lessing-Studien der "Positivisten" Wilhelm Scherer und Erich Schmidt. Michler gelingt es anschaulich zu zeigen, wie methodische Vorentscheidungen zunächst das Postulat des Toleranzdenkens begünstigen, dann aber eine ambivalente Äquidistanz zur jüdischen und antisemitischen Lessing-Rezeption bewirken konnten. Die abschließenden Beiträge aus unterschiedlichen Interviewprojekten verstehen sich als "Spurensicherung im sprachlichen Gedächtnis der Emigranten". Der Sammelband hat vor allem darin seine Stärke, dass spezifisch österreichische Kontexte ins Blickfeld der Aufmerksamkeit treten, die doch deutliche Unterschiede zu den bundesrepublikanischen Verhältnissen der Zeit nach 1945 verraten, und dass die mitunter komplizierten und prekären Verhältnisse von Literatur und Wissenschaft mitsamt ihren Vertretern kenntnisreich entwickelt werden.
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