Er war anständig

Uwe Timm zeigt am Beispiel seines Bruders, wie fest uns die NS-Vergangenheit im Griff behält

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Krieg zu Ende war, meldete sich Karl Jaspers zu Wort, eine der wenigen integren Stimmen, die Deutschland verblieben waren, und stellte die "Schuldfrage". Er verwarf zwar das abstrakte Gebilde der Kollektivschuld, gleichwohl gebe es unter seinen Landsleuten niemanden, der von sich behaupten könne, nicht in irgendeiner Weise mit dem Vernichtungsgeschehen in Berührung gekommen zu sein. Denn zu fast jeder Familie gehöre jemand, der mit Hand angelegt habe: "Wir fühlen etwas wie Mitschuld für das Tun unserer Familienangehörigen. Diese Mitschuld ist nicht objektivierbar." Väter und Mütter, Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern fühlten sich mitgetroffen, "wenn einer aus unserer Familie unrecht tut", und seien "darum auch geneigt, je nach Lage und Art des Tuns und der vom Unrecht Betroffenen, es wieder gutzumachen, auch wenn wir moralisch und juristisch nicht haften."

Als Jaspers dies 1945/46 formulierte, dachte er vor allem an die "Schuld der Väter", die es in Zukunft zu übernehmen gelte. Diese Schuld wurde auch zum literarischen Topos, zuerst wohl in Christian Geißlers Roman "Anfrage" (1960). In den 70er und 80er Jahren kam es dann zu einer Flut sogenannter Vaterbücher, genannt seien Sigfrid Gauchs "Vaterspuren" (1979) und Christoph Meckels "Suchbild" (1980). Zuletzt hat Thomas Harlan mit seinem Buch "Rosa" (1999) für Aufsehen gesorgt.

Nun legt Uwe Timm einen autobiographischen Text vor, der sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eines Familienmitglieds beschäftigt. Der Titel verrät: Er kommt auf das Thema nicht anhand des Vaters, sondern am Beispiel seines Bruders zu sprechen. Der Bruder, Karl-Heinz mit Namen, hatte sich 1943 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Er war 19 und damit 16 Jahre älter als Uwe, der 1940 als "Nachkömmling" der Familie geboren wurde. Timm hatte kaum Gelegenheit, seinen Bruder kennenzulernen; er hat nur ein einziges, sehr vages Bild von ihm im Kopf, das zu Beginn mitgeteilt wird: "An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben - ich schwebe." Für mehr gemeinsame Spiele hat die Lebenszeit des Bruders nicht ausgereicht. Er starb am 16. Oktober 1943 nach schwerer Verwundung in einem Feldlazarett an der Ostfront.

Offenbar trug sich Timm schon seit Jahren mit dem Gedanken, über seinen Bruder und also über seine Familie zu schreiben. Als der einzig verbliebene Sohn stand er in einem ständigen Konkurrenzverhältnis zum toten Bruder, was man ihn in den steten Vergleichen mit dem Älteren schmerzlich spüren ließ: "Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern." Selbst in seine Träume schleicht sich der Bruder, nein, er verschafft sich gewaltsam Zugang: "Jemand will in die Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt. Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sich hereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, daß es der Bruder ist, zurück." Doch den Plan, über den Bruder zu schreiben, wollte Timm wohl erst verwirklichen, als seine Mutter und auch seine um 18 Jahre ältere Schwester tot waren. Erst jetzt fühlte er sich frei, wobei "frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen."

Auch die vielen offenen Fragen hatte Karl Jaspers vorausgeahnt und seinen Lesern folgenden Rat mit auf den Weg gegeben: "Es gibt keine Frage, die nicht gestellt werden dürfte, keine liebgewordene Selbstverständlichkeit, kein Gefühl, keine Lebenslüge, die zu schützen wären. Aber erst recht darf es nicht erlaubt sein, sich frech ins Gesicht zu schlagen durch herausfordernde, unbegründete, leichthin gefällte Urteile."

Timms Buch wirft viele Fragen auf und vermeidet leichthin gefällte Urteile. Zu den wenigen Gegenständen des Gefallenen, die man von der Front an die Mutter zurückgeschickt hatte, zählte auch ein Notizheft, das dem Bruder als Tagebuch diente. Die täglichen Eintragungen, die zwischen dem 14. Februar und dem 6. August 1943 erfolgt sind, stellen neben einigen Feldpostbriefen, die er nach Hause geschickt hatte, die einzigen Zeugnisse dar, die dem jüngeren Bruder verblieben sind, um sich ein Bild zu machen. Das sei die "festgeschriebene Erinnerung", meint Timm, welcher er nachgehen wolle. Doch lange Zeit kam er bei der Lektüre der Notizen nicht über eine bestimmte Stelle hinaus: "Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG." Nur wenig später heißt es über den mitleidlosen MG-Schützen: "Er war ein Kind, das lange gekränkelt hatte." Die Mutter habe häufig die Geschichte erzählt, wie der Bruder sich zur Waffen-SS melden will, sich aber verläuft und auf der nächtlichen Suche nach der Kaserne einen Mann trifft, der ihm den Weg zeigen will. Als der Bruder nach einiger Zeit misstrauisch wird und fragt, ob sie sich denn auf dem richtigen Weg befänden, entgegnet der Mensch: "Wir gehen zum Mond, da, der Mond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen." Die Begegnung wird zum Menetekel. Es stellt sich heraus, dass er bereit gewesen war, einem Irren zu folgen. Aber das hatte er mit den meisten der 80 Millionen Deutschen gemein. Der Bruder kommt zur "Totenkopfdivision", eine der drei Stammdivisionen der Waffen-SS, die im Oktober 1939 aus den Wachmannschaften der Konzentrationslager hervorgegangen war. Die SS-Divisionen zeichneten nicht nur für viele Verbrechen verantwortlich, sondern sie waren nach dem Überfall auf die Sowjetunion wichtige Stützen in einem Krieg, der die Voraussetzung für die Ermordung der europäischen Juden schaffen sollte.

Nach Verbrechen, nach Tatbeständen fahndet der jüngere Bruder im Tagebuch des Älteren. Der hatte am 28. Februar festgehalten: "1 Tag Ruhe, große Läusejagd, weiter nach Onelda." Die typographisch hervorgehobenen Einträge kommentiert Uwe Timm stets eingehend und weist auf mögliche Interpretationen hin: "Es war eine dieser Stellen, an denen ich früher innehielt, beim Weiterlesen zögerte. Könnte mit Läusejagd nicht auch etwas ganz anderes gemeint sein, nicht einfach das Entlausen der Uniform?" Zurecht ist Timm hellhörig. In der Tat trug die nationalsozialistische Propaganda ihren Teil zum Massenmord bei, was sich in kruden Sprachregelungen manifestierte. Juden und alle "rassisch Minderwertigen" wurden rhetorisch denunziert. Die menschlichen Züge des Gegners sollten verdrängt werden, eine Taktik, wonach Hitlers Gefolgschaft den Feind als Schädling wahrzunehmen habe, den es auszurotten gelte.

"Er log nicht. Er war anständig." So sprach der Vater über seinen Sohn. Anständig. Uwe Timm weiß natürlich, dass dies ein kontaminierter Begriff ist. Eine zentrale Vokabel aus der "Werteskala" von Heinrich Himmler. Der hatte in einer Rede, die er am 4. Oktober 1943 vor SS-Führern in Posen hielt, stolz darauf hingewiesen, dass die Massenmörder ihren Ehrenkodex stets beachtet hätten: "Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht." Die Eltern ließen auf ihren verlorenen Sohn nichts kommen. Auf die Frage, warum er sich zur SS gemeldet habe, sagte die Mutter: "Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken." Der Vater sagte, man habe den Jungen missbraucht. Er sei kein Verbrecher gewesen, sondern habe in einer Kampftruppe gedient - eine nachträgliche Heroisierung.

Die Recherchen Timms führen unweigerlich zu den Eltern. Sie sind nicht nur Quelle, sondern sie werden zum Gegenstand seiner Ermittlungen. Der Familienforscher besonderer Art lotet gewissermaßen das geschichtliche Milieu aus, dem er entstammt und in dem Auschwitz möglich war. "Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache", schreibt Jürgen Habermas in seinem Essay "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie" (1986), "daß auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft. Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiaren, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen - durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist." Das hat auch Uwe Timm erkannt, ihn hat die NS-Vergangenheit noch fest im Griff, diese Kontinuitäten will der Autor in seinem Buch auch den Lesern am Beispiel seines Bruders und seiner Familie plausibel machen. "Über den Bruder schreiben", bemerkt Timm einmal, "heißt auch über ihn schreiben, den Vater."

Der Vater, Hans Timm, wurde 1899 geboren. Er war Offiziersanwärter im Ersten Weltkrieg, dann Freikorpskämpfer und soll der "Organisation Consul" nahegestanden haben, die für die Morde an Walter Rathenau und Matthias Erzberger verantwortlich war. Er wurde - versierte Timm-Leser aufgepasst! - ein erfolgreicher Tierpräparator. Im Zweiten Weltkrieg diente er bei der Luftwaffe. Das Soldatische hat ihn bestimmt, dem angeblichen Muttersöhnchen Uwe, der ist gerade fünf Jahre alt, gibt er einen Vorgeschmack auf den militärischen Drill: "Ich lernte die Hacken zusammenschlagen und einen Diener machen." Das lässt für das Verhältnis des Heranwachsenden zum Vater nichts Gutes ahnen: "Als ich sechzehn war, begann ein hartnäckiger, immer gehässiger werdender Kampf zwischen uns. Eine enge rechthaberische Strenge von seiner Seite, ausgelöst durch die hassenswerten Regularien des Alltags: keine Jeans, kein Jazz, abends um 10 Uhr zu Hause sein. Was alles verboten, was verlangt, was geregelt war. Ein Regelsystem, das mir nicht einleuchtete und dessen Widersprüchlichkeit zu offensichtlich war." So ist Timms Buch auch ein später Beitrag zu den Vaterbüchern. Michael Schneider stellte 1981 in dem Essay "Väter und Söhne, posthum" fest, "daß die als Welteroberer geschlagenen und als politische Subjekte entmündigten Nachkriegs-Väter einen immensen Nachholbedarf an Autorität hatten, den ihnen nur die Familie gewährleisten konnte. Je gebrochener sie in Wirklichkeit waren, um so mehr mußten sie zu Hause auftrumpfen und den ,starken Mann' herauskehren." Ähnliches erfährt man bei Timm über die Väter: "Die Kommandogewalt hatten sie im öffentlichen Leben verloren, und so konnten sie nur noch zu Hause, in den vier Wänden, herumkommandieren." Nur kurze Zeit führte der Vater in den 50er Jahren ein gut gehendes Geschäft als Kürschner und ein strenges Regiment als Patriarch. Dann aber folgte der allmähliche Abstieg, der Alkohol ist der Begleiter auf dem Weg zur Verwahrlosung. Dies sei, so schreibt Timm, dem "langsamen Wunschverlust" geschuldet, der beim Vater eingesetzt habe.

Auch der Schwester Lore widmet Timm ein Porträt in seinem Familienbild. Sie ist eine ausgesprochene Pechmarie, die zwei Verlobte im Krieg verliert, einer Art Heiratsschwindler verfällt und von einem persischen Juden geliebt wird, der schließlich mit dem Auto tödlich verunglückt: "So vergehen die Jahre", lautet Timms lakonisches Fazit. Sie stirbt an Krebs. Bewegend ist, was Timm über seine Mutter, etwa über deren Kindheit bei der bösen Stiefmutter, berichtet. Auch sie, die bis ins hohe Alter das vom früh verstorbenen Vater gegründete Geschäft führt, stirbt nach schwerer Krankheit. Sie kann sich nur noch über Händedruck mit ihrem Sohn verständigen, es sei, heißt es, "ein zartes Druckalphabet des Einverständnisses" gewesen. Ein Wunsch blieb ihr bis zuletzt verwehrt. Das ganze Leben habe die Mutter davon geträumt, einmal das Grab des gefallenen Sohnes zu besuchen: "Mit dem Tod der Mutter ging der Wunsch, dorthin zu fahren, auf mich über."

Zurück also zum Tagebuch des Bruders. Die knappen Aufzeichnungen sind merkwürdig unpersönlich, ausschließlich werden der Krieg und das Handwerk des Tötens thematisiert. Und auch die Briefe sind das Spiegelbild einer Erziehung, die bedenkliche Werte wie Wille, Gehorsam, Opferbereitschaft und Treue offenbar mit Erfolg vermittelt hat. "Um eine eigene Geschichte und um die Erfahrbarkeit eigener Gefühle betrogen", resümiert Timm, "bleibt nur die Reduktion auf Haltung: Tapferkeit." Tapferkeit, das sprach Karl-Heinz, der Bruder, den britischen Bomberpiloten ab, als er von den schweren Luftangriffen auf seine Heimatstadt Hamburg im Juli 1943 erfahren hatte: "Das ist doch kein Krieg", schreibt er nach Hause, "das ist ja Mord an Frauen und Kinder[n] - und das ist nicht human." Human waren aber vor allem jene Taten nicht, derer sich deutsche Truppen in der Sowjetunion schuldig machten, womöglich auch der Bruder Karl-Heinz. Er war Teil dieses mit äußerster Brutalität geführten Vernichtungskrieges. Doch die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, die zahllosen Opfer, erwähnt er mit keinem Wort, wie Uwe Timm konsterniert feststellt, "vermutlich erschien ihm dieses Leid, diese Zerstörungen und Todesopfer normal, also human". Fassungslos zeigt er sich über die Ausblendung allen Mitgefühls in den Notizen des Bruders, die es diesem erlaubt habe, "human zu Hause und human hier, in Rußland", zu trennen: "Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord." Freilich lassen nur wenige Stellen aus der schriftlichen Hinterlassenschaft direkt auf verbrecherisches Tun schließen. Am 25. Juli 1943 berichtet der Bruder in einem Brief aus der Ukraine, wo die Waffen-SS von den Einheimischen ohne Angst begrüßt worden war: "Scheinbar haben diese Leute hier unten noch nichts mit der SS zu tun gehabt. Sie freuten sich alle, winkten, brachten uns Obst usw., bisher lag nur Wehrmacht hier in den Quartieren." Die Fragen von Uwe Timm, wie der Bruder sich selbst sah, ob er so etwas wie Täterschaft und Schuld überhaupt empfand, müssen unbeantwortet bleiben.

Unbeantwortet bleibt natürlich auch die Frage: "Was, wenn der Bruder zur Wachmannschaft eines KZ versetzt worden wäre?" Von den Eltern sei diese Frage nie ausgesprochen worden, schreibt Timm: "Und gedacht? Wenigstens das, denke ich, sie müssen es gedacht haben - und wie groß war ihr Schreck bei diesem Gedanken?" Obwohl sie hypothetisch ist, hat diese Frage ihre Berechtigung. Mancher Leser wird sie sich schon einmal gestellt haben. Angesichts der großen Prozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher, die seit den 60er Jahren vor deutschen Gerichten stattfanden, haben sich viele Beobachter diese Frage gestellt. So wurde etwa der Auschwitz-Prozess (1963-1965) für den Schriftsteller Horst Krüger zur persönlichen Zeitschleuse, fühlte er sich doch im Gerichtssaal ins Jahr 1943, also an die russische Front, zurückversetzt. Und so befragt er aus der Retrospektive den 24jährigen Wehrmachtsgefreiten: "Und wenn man mich nun nach Auschwitz abkommandiert hätte?" Die Antwort, nachzulesen in der Autobiographie "Das zerbrochene Haus" (1966), ist so ehrlich wie niederschmetternd. Nein, meint Krüger, mitgemordet und mitverbrannt hätte er wohl nicht, aber wer könne schon sagen, "wie lange ich mich entzogen hätte? Auch das Töten kann eine Gewohnheit werden. Alles ist Gewohnheit. Wenn täglich zehntausend Menschen getötet werden, wer sagt, daß ich nach zwei Jahren mich nicht auch daran gewöhnt hätte?"

Vielleicht war auch der Bruder nahe daran, sich an die Dinge zu gewöhnen, deren Zeuge er geworden war, deren Ausführung er befohlen bekam. Darüber zu schreiben - das allerdings verweigerte er. So lautet die letzte Eintragung: "Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen." Für den jüngeren Bruder ist klar, dass sich der ältere damit aus der Verantwortung stahl: "Über die Leiden zu schreiben, über die Opfer, das hieße auch die Frage nach den Tätern zu stellen, nach der Schuld, nach den Gründen für Grausamkeit und Tod - wie es eine Vorstellung gibt von den Engeln, die über all die Schandtaten und Leiden der Menschen Buch führen. Wenigstens das - Zeugnis ablegen." Zeugnis über seinen Bruder ablegen, wenigstens das wollte Uwe Timm mit seinem Buch leisten. Und diese Recherche unternahm er ohne jede Rücksicht auf sich selbst. Denn es steht zu befürchten, dass die Niederschrift keineswegs jenen kathartischen Effekt hatte, den der Autor sich erhofft haben mag. Denn mit fortschreitender Ermittlung schafft es der Bruder, sich immer mehr zu entziehen, er bleibt stets ein blasser Schemen, die Ahnung eines Schattens, wie er auch auf dem Schutzumschlag nur mit einiger Mühe zu erkennen ist. Dafür, dass es nicht gelang, den Bruder scharf in den Blick zu nehmen und alle offenen Fragen zu klären, steht auch ein Abriss der Hornhaut, den Timm bei der begleitenden Lektüre, etwa der Bücher von Primo Levi, Christopher Browning oder Wolfram Wette, wohl erlitten hat: "Ich bin nicht übermäßig schmerzempfindlich, aber dieser Schmerz läßt mich nicht schlafen, macht Lesen und Schreiben unmöglich, ein Schmerz, der nicht nur das verletzte Auge tränen läßt, sondern auch das andere, ich, der einer Generation angehört, der man das Weinen verboten hatte - ein Junge weint nicht -, weine, als auch über das Nichtwissen, das Nichtwissenwollen, der Mutter, des Vaters, des Bruders, was sie hätten wissen können, wissen müssen, in der Bedeutung von wissen, nach der althochdeutschen Wurzel, wizzan: erblicken, sehen. Sie haben nicht gewußt, weil sie nicht sehen wollten, weil sie wegsahen."

Letztlich scheitert sogar der Versuch, sich dem Bruder wenigstens in topographischer Hinsicht zu nähern, denn auch dem Sohn bleibt verwehrt, was die Mutter sich so sehnlich gewünscht hatte: Der Soldatenfriedhof, auf dem der ältere Bruder begraben lag, war kurz bevor der jüngere Bruder ihn von Kiew aus besuchen wollte, aufgelassen worden. Die sterblichen Überreste lagerten unzugänglich in einer Halle: "Auf dieser Reise war es die größtmögliche räumliche Annäherung an das Grab des Bruders."

Titelbild

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462033204

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