Kultur durch Kommunikation

Manuel Castells' Handbuch über das Informationszeitalter

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die informationstechnologische Revolution des ausgehenden 20. Jahrhunderts nimmt, im Unterschied zu früheren Revolutionen, erdumspannende Dimensionen an und betrifft die gesamte Weltbevölkerung. Sie wird, folgt man Manuel Castells, die Gesellschaft schlechthin revolutionieren und zur Bildung einer Weltgesellschaft führen.

Folglich wäre es konsequent, nicht mehr von Gesellschaften im Plural zu sprechen, sondern von der einen Gesellschaft im Singular als der einzigen noch verbleibenden, die durch die Ausbreitung und Anwendung der neuen Technologien (mit) gebildet und modelliert wird. Vom Nutzen und den Nutzungsformen dieser Kommunikationstechnologien und Kommunikationssysteme sowie ihrer zivilen wie nicht-zivilen Anwendungen handelt Manuel Castells, Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Sein enzyklopädisches Werk "Das Informationszeitalter" ist auf drei Bände angelegt, die 1. den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, 2. die Macht der Identität und 3. die Jahrtausendwende darstellen.

Die Netzwerkgesellschaft, die Castells in seinem Buch rekonstruiert und auch propagiert, ist durch den Doppelaspekt der Individualisierung und der Entindividualisierung charakterisiert, denn genau so, wie sich die Zeit/Raum-Flexibilität in der kommunikativ verdichteten Industriegesellschaft im beruflichen bzw. persönlichen Alltag reduziert, genau so schafft sie andererseits auch neue Räume individueller Differenzierung, indem sie an die Seite "traditioneller Arbeitsplätze" alternative Formen der Beschäftigung und der Erwerbstätigkeit treten lässt.

Die Integration der elektronischen Kommunikation in den Alltag einer Massengesellschaft, so Castells' These, führt zur Entstehung interaktiver Netzwerke, deren Anschlussoptionen mit der Zahl der Teilnehmer exponentiell ansteigen. Virtuelle Gemeinschaften entstehen und bilden technisch versierte Innovationsmilieus, und in urbanen Räumen entstehen "Technopole", welche die bestehenden politischen Monopole gefährden, die herrschenden Führungseliten herausfordern und Informationen allgemein zugänglich machen. In einer Gegenbewegung versuchen die alten und neuen Machteliten, ihre technokratisch-finanzielle Herrschaft zu sichern und die Gefährdungskapazität "multipersonalisierter" libertärer Unterströmungen jenseits der Eliten durch Segmentation und Desorganisation herabzusetzen.

Die Netzwerkgesellschaft, so Castells weiter, stiftet aber auch eine partiell neue Kulturalität und partiell veränderte Identität, welche nicht mehr primär großräumig an Nationen und Ethnien orientiert ist und, wie früher, mit Hilfe nationaler oder ethnischer Stereotypen kommuniziert wird, sondern an lokale Gegebenheiten gekoppelt bleibt. Auch minoritäres Wissen hat jetzt die Chance, infolge der globalen Vernetzung als Teil des kulturellen Wissens der Menschheit gesichert zu werden: Geschichte und Gedächtnis manifestieren sich nicht mehr bloß als emphatische Hochkulturformen.

Das Hauptaugenmerk der Studie gilt freilich den Debatten über wirtschaftliche Produktivität und Konkurrenzfähigkeit, wie sie seit den 90er Jahren als Schlüssel zu neuerlichem Wachstum verstanden werden. Fragen einer "globalen Erwerbsbevölkerung" werden ebenso angeschnitten wie Fragen wirtschaftlicher Konvergenz in offenen, integrierten Wirtschaftsräumen wie Nordamerika (einschließlich Kanada) und Westeuropa (nach Maastricht). Das Denken in Netzwerken hat im Wirtschaftsleben zu einer Reform der traditionell hierarchisch strukturierten innerbetrieblichen Organisation geführt. Netzwerk-Unternehmen mit (auch) vertikalen Strukturen und einer "Vernetzung der Netzwerke" erproben neue Modelle des Wirtschaftens, deren Effizienz sich freilich erst noch erweisen muss.

Zum enzyklopädischen Anspruch des vorliegendes Buches gehört es, die Wurzeln der modernen Kommunikation bis in die Antike zurückzuverfolgen. Ohne Alphabetisierung, ohne Ablösung der oralen Tradition durch das Medium der Schriftlichkeit, ohne Aufhebung bzw. Relativierung von Raum und Zeit im kommunikativen Prozess, gäbe es keine umfassende (ökologische) Kommunikation im modernen Sinn. Das bedeutet aber nicht, dass mündliche Kommunikation, gerade im zeit- und das heißt geldorientierten Arbeitsmanagement, vernachlässigt werden dürfte oder gar überwunden wäre - das Handy als Medium fernmündlicher Just-in-time-Kommunikation beweist das Gegenteil. Überhaupt ist Castells angenehm zurückhaltend und vorsichtig, wenn es darum geht, Prognosen für seine Herleitungen aus dem Hergeleiteten abzugeben, denn kaum etwas, das sich über Jahrhunderte und Jahrtausende bewährt hat, wird sich nur aufgrund neuer Technologie erledigen. Hinzu kommt, dass der Globalisierung eine (im politischen Raum zum Teil militante) Gegenbewegung der Regionalisierung entspricht, in der wert- und kulturkonservative sowie zum Teil auch regressive Projektionen Konjunktur haben.

Titelbild

Manuel Castells: Das Informationszeitalter, Teil I. Die Netzwerkgesellschaft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2001.
600 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3810032239

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