Brasiliens Beitrag zur literarischen Moderne

Joaquim Maria Machado de Assis' "Nachträgliche Memoiren des Bras Cubas"

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wäre dieser Roman ein Pullover, würde sich sein Träger in der Öffentlichkeit ganz schön blamieren. So ungeschickt ist er gestrickt, mit solch regellosem Muster, das jeglichem Sinn für Symmetrie Hohn spricht, hier ein Faden, da ein nächster, dort wird der erste wieder aufgenommen oder auch nicht, zwei rechts, zwei links, einen fallen lassen. Am Ende droht das gute Stück gar völlig aus allen Nähten zu gehen. Aber, auch wenn sich die Strick- und Webmetapher bei derartigen "Texten" wie den "Nachträglichen Memoiren des Bras Cubas" aufdrängt: Ein Roman ist kein Kleidungsstück, und das macht gerade seine bedeutungsvolle Belanglosigkeit aus.

Aus diesem Grund kann man Joaquim Maria Machado de Assis' Büchlein getrost mit sich herumtragen und sogar lesen, ohne sich dabei lächerlich zu machen. Im Gegenteil - befindet man sich mit ihm doch in der denkbar erlauchtesten Gesellschaft der Romangeschichte. "Don Quijote", die "Neue Heloïse", sogar der "Wilhelm Meister", allen voran aber Tristram Shandy, dazu die Romane Jean Pauls und Diderots, formen den Boden, von dem sich dieser Schelmenroman aus dem fernen Brasilien nährt und gleichzeitig pasticheartig abhebt. "Diese vier Romane", hat Schopenhauer mit Blick auf die hier erstgenannten Titel gesagt, "sind die Krone der Gattung", und es ist sicher nicht das tadelnswerteste Unternehmen, gerade diese Krone kopieren zu wollen.

Wie dies einem Autor gelingt, der sich als Epileptiker mit ärmlicher Kindheit und gemischter Hautfarbe im Brasilien des 19. Jahrhunderts durchschlagen musste, ist nur zu bewundern. 160 zumeist kurze, bisweilen groteske Kapitel entwerfen auf gut 350 mal albernen, mal melancholisch-ernsthaften, doch immer geschwätzigen Seiten ein Bild von einem recht gewöhnlichen Leben, um es sogleich wieder vor den Augen des Lesers unkenntlich zu machen. "Gewöhnlich" ist dieses Leben des schelmenhaften Bras Cubas, seines Zeichens Journalist, Politiker, Liebhaber, in allem aber und in erster Linie Dilettant, der sein Leben vom Ende her erzählt, ab tumba sozusagen, gewöhnlich und daher umso bemerkenswerter und romanhafter. Denn, um noch einmal Schopenhauer zu bemühen, die "Aufgabe des Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern kleine interessant zu machen."

Dem Manesse Verlag kann man nur dankbar sein, dass ein solch unnützes Buch heute, nach mehr als 50 Jahren, ins Deutsche übersetzt von dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Kayser ("Das sprachliche Kunstwerk"), wieder erscheinen kann. Für die brasilianische Literatur, hierzulande noch immer unbekannt genug, bedeutete das 1880 veröffentlichte Werk einen riesigen Fortschritt aus einem verblasenen und ermüdenden Lokalpatriotismus heraus in Richtung Moderne. Im spanischsprachigen Südamerika hingegen, schreibt Susan Sontag in einem liebevoll-kenntnisreichen Nachwort, sei Machado de Assis beinahe unbekannt, was eigentlich erstaunen muss. Borges hätte dieses Werk geliebt, hätte er es nur gekannt.

Titelbild

Joaquim Maria Machado de Assis: Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas. Roman.
Nachwort von Susan Sontag.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Wolfgang Kayser.
Manesse Verlag, Zürich 2003.
382 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3717520180

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