Gedichte nach Auschwitz
Günther Bonheim wagt einen "Versuch zu zeigen, dass Adorno mit seiner Behauptung, nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben, recht hatte"
Von Heike Glindemann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben."
Über diese Sätze Adornos ist viel geschrieben und noch mehr geredet worden. In der Verkürzung, es sei unmöglich, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sind sie gar zu einer Art geflügeltem Wort geworden. 53 Jahre nach ihrer Veröffentlichung versucht Günther Bonheim in seinem Buch, die inzwischen verstrichene Zeit für einen neuen Umgang mit Adornos These nutzbar zu machen. Bonheim möchte nicht, oder nicht hauptsächlich, erneut theoretisch die moralische Berechtigung von Adornos Satz verhandeln, sondern ihn rückblickend, anhand der Gedichte, die in all den Jahren natürlich fleißig weiter geschrieben wurden, ganz konkret auf den Prüfstein stellen: Hat sich die von Adorno postulierte Unmöglichkeit in feststellbarer Weise auf die deutsche Lyrik nach 1945 ausgewirkt?
Diese Frage sucht Bonheim an Beispielen aus dem Werk ausgewählter Dichter und Dichterinnen zu beantworten, wobei er diese untergliedert in drei Abteilungen vorstellt: Lyrik nach Auschwitz, im Sinne einer Lyrik, die direkt nach Auschwitz und zum Teil unter dem Eindruck des eigenen Erleidens von Auschwitz geschrieben wurde, die siebziger Jahre und die gegenwärtige Lyrik. In Bezug auf die Auswahl der jeweils untersuchten Autoren und Autorinnen gesteht Bonheim eine gewisse, letztlich nicht zu vermeidende Willkürlichkeit ein, versucht diese aber in Grenzen zu halten, indem er auf die Literaturgeschichtsschreibung zurückgreift und im Falle der Gegenwartslyrik, für die eine solche natürlich noch nicht existiert, von der Häufigkeit, mit der die Poeten mit renommierten Preisen bedacht wurden, ausgeht. Die Ergiebigkeit der Texte für Bonheims Gedankengang bleibt daneben aber als weiteres Kriterium deutlich erkennbar. Im ersten Zeitabschnitt ergeben sich so die geringsten Schwierigkeiten bei der Auswahl: die Betrachtung von Gedichten Celans und Nelly Sachs' versteht sich hier schließlich nahezu von selbst. Als Vertreterin einer Lyrik, die sich demgegenüber nicht explizit auf die Schoa bezieht, wählt Bonheim zusätzlich Christine Lavant aus. Für seinen "kurzen Streifzug" durch die Lyrik der 70er Jahre prüft Bonheim Gedichte von Brinkmann, Theobaldy, Born, Wondratschek, Becker, Schenk und Buselmeier, bei der Gegenwartslyrik beschränkt er sich auf drei Vertreter: Durs Grünbein, Thomas Kling und Kerstin Hensel.
Der Analyse der ausgewählten Gedichte vorangestellt sind zwei weitere Kapitel, die das theoretische Fundament für Bonheims Ausführungen liefern sollen: Zunächst stellt er einige Überlegungen zur Autonomie der Kunst an, einem für Adornos "Ästhetische Theorie" zentralen Begriff,. Hierbei referiert er zwar Adornos Auffassung, dass zur Entfaltung der Kunst ihre Loslösung von Theologie und Erlösungsgedanken notwendig gewesen sei, legt seinen Betrachtungen jedoch eine andere Auffassung zugrunde, die er als im Gegensatz zu jener Adornos stehend begreift: Kunst konstituiere sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer sich auf dem Rückzug befindlichen Religion. Darauf aufbauend betrachtet Bonheim in einem weiteren Kapitel die Entwicklung der deutschen Literatur vor Auschwitz unter diesem Gesichtspunkt, indem er entlang der Stationen Hölderlin, Nietzsche, Kafka, Trakl und schließlich Benn einen Zusammenhang zwischen kulturellen Säkularisierungsschüben und anschließender literarischer Blüte herstellt. In diesem Zusammenhang begreift er Auschwitz als letzten und letztmöglichen Säkularisierungsschub und die nach Auschwitz entstandene Lyrik dementsprechend als Ergebnis der auf diesen Schub folgenden angeregten Literaturproduktion. Bonheim merkt hier zwar an, dass der Gedanke einer Kausalität in diesem Zusammenhang "geradezu makaber erscheinen muß", das hindert ihn bedauerlicherweise aber nicht an seiner Niederschrift - der Gedanke ist schlicht makaber.
An dieser Stelle offenbart sich ein grundlegendes Problem von Bonheims Schrift:
Sein Ansatz ist einerseits interessant und grenzt sich, indem er Adornos Behauptung ernst nimmt, auf erfrischende Weise von ihrer üblichen Rezeption ab, der Bonheim zu Recht vorwirft, dass sie die Aussage des Satzes häufig einfach negiere, etwa indem sie ihn höflich als "provozierende Denkanregung" versteht. Andererseits bleiben Bonheims Betrachtungen letztendlich einer literaturwissenschaftlichen Sichtweise verhaftet, die Adornos Behauptung zur Lyrikanalyse nutzbar macht. Hier soll nicht der Eindruck erweckt werden, Bonheim verkenne ihre über Lyrik hinausweisende Bedeutung, er ist sich dieser im Gegenteil durchaus bewusst, nur geht sie in seiner Argumentation gegenüber der von ihm ausgewählten Lyrik zum Teil verloren. Bonheims Überlegungen münden so durchaus in einer soliden Kritik an der jüngeren deutschen Lyrik, Adornos Satz werden sie, zwangsläufig, nicht gerecht.