Die Grundangst der Juden in Deutschland
Gespräch mit Rafael Seligmann
Von Matthias Prangel
Matthias Prangel: Um es gleich vorwegzunehmen, es soll dies ein Gespräch vor allem mit dem Schriftsteller Rafael Seligmann sein. Daher will es Sie auch nicht zu Analysen der aktuellen israelisch-palästinensischen Lage drängen und auch nicht zu einem Votum in Sachen Walser, Möllemann & Co. Andererseits bewegt sich Ihr literarisches Schreiben so hart an historischer Wirklichkeit und Aktualität, dass man beide hier unmöglich außen vor lassen kann. Das führt mich sogleich zu der Frage: Gibt es seit etlichen Jahren - Doron Rabinovici, Maxim Biller und eben auch Rafael Seligmann - so etwas wie eine deutschsprachige jüdische Literatur, die nicht nur von Juden gemacht wird, vielmehr auch ganz gezielt die aktuelle Lebenswirklichkeit von deutschen Juden und Juden in Deutschland zu ihrem Gegenstand macht? Und, sollte dem so sein, woher dann kommen die plötzlichen Antriebe zu solch einer Literatur?
Rafael Seligmann: Ich glaube, der Antrieb zur Literatur liegt einfach im Menschen. Der erzählt gerne. Und manche haben das Bedürfnis, ihre Gefühle aufzuschreiben. Die einen machen Musik, andere trinken Schnaps und noch andere schreiben. Die Frage sollte eher lauten: warum so spät? Warum hat es über vierzig Jahre gedauert, bis Juden es in diesem Lande gewagt haben, wieder über ihre Gefühle zu schreiben. Obwohl wir hier einen Literaturpapst jüdischer Herkunft haben, ist ihm offensichtlich ebensowenig wie Hunderten von germanistischen Analysen aufgefallen, dass die Juden von ihren Gefühlen in all den Jahren nichts preisgegeben haben. Warum das so war, hat dabei einen ganz einfachen Grund. Von den einst 350.000 deutschen Juden sind vielleicht zehntausend zurückgekommen, nicht eigentlich zurückgekommen, was ja nur bei den wenigsten der Fall war, sondern hergekommen. Warum haben die also nicht geschrieben? Weil sie es nicht gewagt haben, ihre aggressiven Gefühle darzustellen. In meinen Augen lebt Literatur hauptsächlich von Gefühlen. Den Juden kam in Deutschland nach 1945 die Funktion des Unmenschen, des Nichtmenschen im Sinne des allzeit Verzeihenden, Versöhnenden, Vergebenden, im Sinne des weisen Nathan, dieses ganz und gar künstlichen Nathan-Gebildes zu. Und die wenigen jüdischen Intellektuellen, die kamen, sie wurden sozusagen als jüdische Onkel Toms präsentiert und haben das Spiel zumeist mitgemacht. Keiner hat es gewagt zu sagen: Ich hasse euch, weil ihr meine Eltern ermordet, weil ihr meine Geschwister erschlagen, weil ihr mein Volk abgeschlachtet habt. Statt dessen haben sie Vorträge gehalten, Sachbücher geschrieben, ihre Erinnerungen immer mit dem Titel 'Ich habe vergeben, ich habe verziehen' versehen. Und bemerkenswert ist, dass die wenigen, die dann schließlich doch angefangen haben, über ihre Gefühle zu schreiben, nicht in Deutschland, sondern zunächst im Ausland sozialisiert wurden, in Israel, in Tschechien, in Amerika. Was mir auffiel, das war die Grundangst der Juden in Deutschland. Sie fühlten sich fremd und hatten Angst vor den Reaktionen der Gojim, der Nichtjuden. Was würde sein, wenn die Deutschen sagten: ihr Saujuden und die Juden sagten darauf: ihr Saudeutschen. Doch genau das durfte nicht sein, denn wir waren ja die Versöhner. Ich erinnere mich an eines meiner ersten Erlebnisse hier. Ich kam mit zehn Jahren nach Deutschland, und ein jüdischer Mitschüler sagte: Für dich bin ich natürlich Moische, aber zu den anderen sag bitte Manfred. Und das, wo jeder in der Schule und Klasse wußte, dass er ein ein Jid war und deswegen auch gelegentlich gehänselt wurde. Man hatte also Angst, und ich hatte die Angst nicht. Ich habe von vornherein gesagt, dass ich Jude bin. In meinem Buch "Mit beschränkter Hoffnung" habe ich geschildert, wie ich und andere verprügelt wurden. Am nächsten Tag, nachdem sich meine Mutter beschwert hatte, weil ich so zugerichtet wurde, fragte der Lehrer dann: Wer hat denn die Judenbuben so verdroschen? Und natürlich wagten mein jüdischen Mitschüler nicht zu sagen, wer es getan hatte. Doch ich habe einfach gesagt: der und der und jener. Und ich sagte: Ich werde euch das Genick brechen usw. Der Lehrer tat natürlich nichts. Aber wir müssen als Juden kämpfen. Dass man es nicht tat, darin liegt der Grund dafür, dass die deutschen Juden sich lange Zeit auch nicht getraut haben, über sich selber literarisch zu schreiben. Wir, die dann schließlich doch damit angefangen haben, kamen alle aus anderen Ländern nach Deutschland. Wir haben als von draußen kommende diese Verbiegung der deutschen Juden erkannt und haben darauf reagiert. Und warum ich politisch reagiere, ist ganz einfach: Ich bin ein politisches Tier. Ich habe Politik studiert und sehe nicht nur, was sich bei mir zu Hause abspielt, sondern was sich in der Gesellschaft tut.
Prangel:"Ich bin ein deutscher Jude!" So lautet der kursiv gesetzte Schlußsatz Ihres ersten Romans "Rubinsteins Versteigerung". Sehe ich richtig, dass damit das Zentralthema all Ihrer bisherigen Bücher markiert ist und das in der mehrfachen Lesart des Satzes als ganz pragmatische Aussage, als Bekundung von Verzweiflung, doch auch als Auftrag und Herausforderung zur Gestaltung von Zukunft?
Seligmann: Ja, sicher auch das letzte. Wobei in der jetzigen Situation mich manchmal Anfälle von Verzweiflung überfallen, dass das, was wir aufgebaut haben ¾ ich spreche nicht nur von Juden, sondern von allen Menschen in diesem Land mit Sinn für Geschichte, Kultur, Humanität ¾, vor die Hunde gehen könnte auf Grund von kurzfristigen populistischen Erwägungen, die intoleranten, rechthaberischen, ausgrenzenden Gefühlen den Weg bahnen. Ich glaube, dass das nächste Jahrzehnt darüber entscheiden wird, wohin die deutsche Gesellschaft geht. Wie man mit den Juden umgeht, so wird die deutsche Gesellschaft mit sich selbst umgehen.
Prangel: Ihre Romane machen klar: Es gibt keine Normalität im Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. Beide Seiten sind - die Verhaltensweisen Ihrer Romanfiguren zeigen es ¾ hochgradig traumatisiert, neurotisiert, psychotisiert. Nehmen wir zunächst Ihre jüdischen Protagonisten. Die hauchdünne Membran aus Vergessen, Verdrängen, Gegenwärtigkeit zerreißt bei ihnen bei den geringfügigsten Anlässen, bloßen Assoziationen schon, und es entlädt sich dann eruptiv in wüsten, allemal auf die Nazizeit und den Holocaust verweisenden Beschuldigungen und Beschimpfungen, vor allem auch gegenüber anderen Juden, die aufgestaute Qual der Vergangenheit, aber auch das Ungenügen an sich selbst. Eine tiefe egozentrische Verstörung, Zerstörung der Seelen wird da sichtbar. Mitgefühl, Empathie wäre da sicher eine angemessene Reaktion. Unübersehbar aber bei Ihnen auch die Kritik, Selbstkritik am geistigen Zustand der deutschen Juden. Diese Kritik hat dann auch Ihnen wieder böse Kritik von jüdischer Seite eingetragen, obwohl Sie - einmal abgesehen von den journalistischen Texten ¾ praktisch all Ihre kritischen Äußerungen geschickt als literarische Fiktion camouflieren, Ihren Romanfiguren in Kopf und Mund legen. Hier nun ganz direkt: Sind viele, zu viele deutsche Juden nicht in der Gegenwart und in Deutschland angekommen? Blockieren sie sich selbst und ihre Gegenwart wie Zukunft durch die Wucherungen von Tradition, Religion, Holocaust?
Seligmann: Ja, das könnte man so sagen. Wenn aber der Rest der Gesellschaft die Juden gewähren ließe, dann würde der blockierende Schutzpanzer schnell oder wenigstens relativ schnell abfallen. Da es aber immer wieder diese antijüdischen Affekte gibt, wird er instand gehalten. Dabei bin ich mir nicht einmal ganz klar darüber, ob die Träger solcher Affekte sich der Konsequenzen voll bewusst sind. Sie sagen, wie Möllemann, Michel Friedmann schüre Antisemitismus. Möllemann tritt da also als Anwalt der Juden auf, um sie vor dem Antisemitismus zu bewahren. Das ist infam. In dieser Deutlichkeit, in der ich es jetzt ausdrücke, haben es wohl auch die meisten Juden noch gar nicht begriffen. Es wäre ihnen aber klar geworden, wenn sie nicht immer wieder diese beleidigten Leberwürste geben würden, sondern statt dessen sagten: Schaut her, da maßt sich einer an, unseren Verteidiger zu machen. Was würdet Ihr sagen, wenn beispielsweise Herr Karsli oder Herr Zeman in Prag sich zum Verteidiger des Deutschtums aufschwingen würden? Wenn sie sagen würden: Ich muss die Deutschen vor dem Antigermanismus meiner tschechischen Landsleute schützen? Man würde sie zu Recht für Verrückte halten. Doch hier wird das hingenommen. Ich glaube im übrigen nicht, dass Tradition und Religion die Juden an einer Integration in diesem Land hindern, weil ja niemand den Leuten verwehrt christlich zu sein. In der deutschen Verfassung ist eine Staatsreligion nicht festgelegt. Es gibt, was vergessen wird, in diesem Land Juden länger als Christen. Gewiss, die Mehrheit ist christlich. Aber man kann genau so gut auch jüdisch sein. Und ich finde, es würde Deutschland recht gut anstehen, diese verschwindend kleine Minderheit zu pflegen. Sie gehört zur deutschen Geschichte und Kultur. Sie ist ein Angebot, kein Zwang. Die Fixierung auf den Holocaust finde ich allerdings in der Tat bedauerlich, wobei ich nie sagen würde, wir müssten das vergessen. Das darf man nicht vergessen. Aber man darf es auch nicht zum Zentrum oder sogar zum Monopol der jüdischen Identität machen. Es ist eine Katastrophe, die uns widerfahren ist, nicht eine jüdische Errungenschaft. Sowohl eine Einzelperson als auch eine Gemeinschaft und ein Volk definieren sich klüger und gesünder über das, was sie geschaffen haben als über das, was ihnen von außen widerfahren ist. Wenn die Juden an der Holocaust-Identität festhalten, und die Israelis beginnen sich jetzt leider, was dem Zionismus früher ganz fremd war, in immer stärkerem Maße darüber zu definieren, dann entsteht Paranoia. Und eben das brauchen wir nicht. Das Judentum hat so vieles Positive: von dem Gesetz in Verbindung mit dem Glauben bis zu Kultur, Tradition und Geschichte. Und nur ein furchtbarer Bruchteil dieser Geschichte, aber eben längst nicht alles, ist die Schoah. Wir sollten uns über unsere Errungenschaften definieren, nicht uns durch den Holocaust erwürgen lassen. Das wäre ein nachträglicher Triumph Hitlers.
Prangel: Ihre Kritik scheint mir auch anderem zu gelten: der Schizophrenie, Heuchelei, Doppelmoral, die etwa darin liegt, dass viele Ihrer Romanfiguren Zion predigen und ein relativ bequemes Leben in Deutschland leben, dass sie mit 'Schicksen' verheiratet sind und ihre Kinder, die eben das auch vorhaben, verteufeln, dass sie irgendwann nach Israel 'aufgestiegen' sind und nach Deutschland zurückkehren, sobald für ihre Kinder der Militärdienst ansteht, dass sie sich auf die Thora berufen, wenn es um die Besetzung altjüdischen Landes geht und auf den Sieg im Sechs-Tage-Krieg, wenn es um die Frage der Herausgabe alten Philisterlandes geht. Sehen Sie eine Möglichkeit, diesen Riss, der die Menschen zerteilt, zu überwinden?
Seligmann: Ja, die Möglichkeit gäbe es, wenn die Juden in diesem Land sich sicher fühlen könnten. Ich meine nicht so sehr die physische Sicherheit, denn außer von einigen verrückten Rechtsextremen, was minimal ist, und extremen Arabern ist man physisch nicht bedroht. Aber es geht um Stimmungen. Wenn jemand das Konzentrationslager überlebt hat, ist er sehr empfindlich gegen Antipathien, gegen antijüdische Haltung, und er erzieht natürlich seine Kinder dementsprechend. Das ist eine Selbstschutzmaßnahme. Natürlich, der Glaube ist zumeist abgefallen, aber man definiert sich immer noch als Jude. Wofür hat man sonst gelitten? Und da möchte man, dass die Kinder auch Juden sind, damit sie einem einmal das Kaddisch sagen. Wenn die eigenen Kinder sich mit den Kindern der Täter vermischen, ich sage bewusst vermischen, also wenn sie eins mit ihnen werden, dann hat man umsonst gelitten. Das wäre der Untergang des Judentums. Wenn man sich nicht mehr über Religion definiert, weil man an die nach Auschwitz nicht mehr glauben kann, wohl aber über eine Art Tradition, über eine Subkultur, dann kann daraus Normalität nur erwachsen, wenn man sich sicher fühlt. Das ist mir in zwei Ländern aufgefallen, in denen ich die jüdische Gemeinschaft als normal erlebt habe. Das eine war Dänemark, das andere Australien. In beiden sind die Juden ganz normaler Teil der Gesellschaft, haben keine Angst und brauchen also auch nicht neurotisch zu reagieren. Wenn ich aber dauernd gewärtig sein muß, als Jude diskriminiert zu werden oder als Jude, von wem auch immer, verfolgt zu werden, dann reagiere ich panisch.
Prangel: Sie gehen noch einen Schritt weiter. In Ihrem letzten Roman "Der Milchmann" z. B. ist in der Auseinandersetzung zwischen Udo Weinberg und seinem Vater Jakob von der Nährung und Exploitierung des schlechten Gewissens der Deutschen durch die Juden in Permanenz die Rede, von den "Profi-Holocaustern" gar und davon, dass man, wo man nicht mehr weiter wisse, am Ende "alles mit Auschwitz" erschlüge. Gewiss, es ist sind dies alles Elemente eines Romans und es sind nur die aufbrausenden Attacken Udos gegen den Vater. Dennoch: Gibt es da gedankliche Ansätze, die - sprechen wir doch kurz darüber - den von Walser in der Pauls-Kirchen-Rede geäußerten nicht einmal völlig fremd sind? Und kommt es also nur immer darauf an, wer so etwas sagt?
Seligmann: Also ich möchte das mit Walser lieber nicht vergleichen. Sicher ist nicht alles Unsinn, was er sagt. Aber Walser hat das nach meiner Interpretation so gemeint, dass er diese Instrumentalisierung der Vergangenheit zum Zwecke des Gegenwärtigen weniger den Juden als der politischen Klasse vorwirft. Ob das nun berechtigt war oder nicht (es ist wohl teilweise berechtigt), das ist sein Ding. Mir hingegen geht es in erster Linie um meine jüdischen Protagonisten und die Haltung, über die sich ein Jude heute selbstbewusst definiert. Und ich finde, ein selbstbewusster Jude sollte sich über seine kulturellen Werte, über seine gesellschaftlichen Werte definieren und nicht über das, was innerhalb der deutschen Gesellschaft ein Herr Walser etwa einem Kartell von politisch korrekten Journalisten in Hamburg vorwirft. Aber da wir gerade bei Walser sind, möchte ich noch eine Bemerkung loswerden: Was mir bei Walser missfällt, das sind nicht seine Figuren. Was mir missfällt, mich vielleicht sogar erschreckt, das ist, dass er ein Wirrkopf ist, ein politischer Wirrkopf, ein Mensch, der nicht willens ist oder sogar unfähig, sich klar auszudrücken. Er hätte es in Frankfurt viel einfacher haben können, wenn er gesagt hätte: Ich werfe der politischen Klasse dieses Landes vor, Auschwitz zu instrumentalisieren oder ich werfe es diesem oder jenem Kritiker vor. Statt dessen lässt er die Sache ungenau durch die Gegend wabern. Und was ich regelrecht erschütternd fand, ich habe ihn damals ja noch verteidigt, das war die Diskussion mit Schröder am 8. Mai im Willy-Brandt-Haus, wo er sagte, man könne Nation nur per Gefühl definieren. Nation muss man aber unbedingt logisch definieren. Es kommt gewiss auch Gefühl dazu, aber das Entscheidende ist die Logik. Wir brauchen Rationalität in diesem Land, gerade im politischen Denken. Und wenn ein Mensch wie Walser das verleugnet und alles auf die Gefühlsebene herabzerrt, dann begibt man sich in höchste Gefahr. Er und vor allem seine Leser. Wenn ein Mensch unfähig ist, zu unterscheiden zwischen persönlicher Schuld früher und politischer Verantwortung heute, dann finde ich das für einen Schriftsteller mit immerhin auch politischen Ansprüchen erschreckend. Also noch einmal: Der Mensch kann nicht klar denken. Er ist ein politischer Wirrkopf. Und da ich gerade ein Buch über die Deutschen und Hitler schreibe, glaube ich sehr gut erkennen zu können, was Hitler an die Macht gebracht hat. Es war das weniger Antisemitismus, wie heute einige, auch Daniel Goldhagen, behaupten, sondern genau dieses wirre politische Denken, dieses wabernde Nationale, Emotionale. Wenn man so denkt, dann besteht immer die Gefahr, dass man irgendwann einmal von der Rationalität, von der Notwendigkeit wegkommt und verletzte Gefühle in den Mittelpunkt stellt. Und das ist der Moment, in dem dann ein Scharlatan kommen und plötzlich die Juden als Sündenböcke darstellen kann. Das ist das Gefährliche an Walser.
Prangel: Als Stichwort zwischendurch, um dem Gedanken von der Exploitierung von Schuld und schlechtem Gewissen noch ein wenig auf der Spur zu bleiben, nur ein Name: Lea Rosh. Natürlich, Hitler als Unglücksfall, als Katastrophenfall der Juden ¾ doch inzwischen auch als Glücksfall, der, wie es im "Milchmann" zynisch heißt, "den Juden auf unabsehbare Zeit Aufmerksamkeit" garantiert?
Seligmann: Nein, es ist es nur ein Unglück. Wenn man nämlich den Juden auf Grund der Vergangenheit von außen eine gewisse Narrenfreiheit einräumt, so hat man sie abermals ausgegrenzt. Ein Mensch soll sich über seine Leistung, über seine Werte, über seinen Liebreiz definieren und nicht über ein Erbe und schon gar nicht über ein Schulderbe. Das wäre genau so, als wenn man, ohne etwas geleistet zu haben, plötzlich ein Riesenvermögen erbt und nur von den Zinsen lebt. Das heißt, man wird immer unsicherer. Was kann man mit diesem Geld machen, wenn man es nicht selbst verdient oder selbst vermehrt? So sind auch Juden, die sich nur über den Holocaust definieren, unglückliche Menschen. Und was Lea Rosh betreibt, das ist wirklich die Reduktion des Judentums auf eine Gaskammer. Das halte ich für fatal. Wir brauchen Frau Rosh nicht. Sie ist keine Jüdin. Sie hat einen jüdischen Großvater, den aber hatten wohl viele in diesem Lande. In meinen Augen weiß sie nicht, was Judentum ist. Sie hat eine große Aufmerksamkeit für sich selber erzeugt. Sie hat auch viele Aversionen geweckt, an denen sie zum großen Teil selber nicht schuldig ist. Aber statt diese Aversionen zurückzudrängen, hält sie sie am Leben. Sicher sollen sich die Deutschen auf ihre Vergangenheit besinnen. Aber aus sich selbst heraus. Die Deutschen brauchen keine jüdischen Nachhilfelehrer und schon gar nicht solche, die sich zudem auch noch anmaßen, als jüdische Nachhilfelehrer aufzutreten. Und das ist die Funktion, die Lea Rosh sich selber zugedacht hat.
Prangel: Sie werden, zumindest dem Namen nach Dietrich Schwanitz' Bildungsbuch kennen. Dort liest man, es liege das Hauptproblem der Niederländer mit ihren deutschen Nachbarn darin, dass man den Deutschen nicht verzeihen könne, dass sie den Niederländern ihren guten Charakter geraubt hätten: Passivität, gar aktive Mithilfe bei der Amsterdamer Judendeportation, Waffen-SS und ein Widerstand, der längst nicht so umfassend und heldenhaft war, wie man ihn sich gerne vorstellte. Gibt es hierzu eine Parallele im deutsch-jüdischen Verhältnis? "Der Milchmann" scheint es nahezulegen. Die Umstände in den Konzentrationslagern drücken viele Juden in der Situation äußerster Gefährdung als Opportunisten, Befehlsempfänger, Mörder und Henker gar auf die Ebene der nationalsozialistischen Peiniger herab. Für diejenigen, die überlebten, war der Preis lebenslanger Verlust der Selbstachtung und tiefer Selbsthass. Sie geben dafür in jenem Buch Beispiele: etwa den alten Weinberg, Dessauer und, am schrecklichsten sicher, Chaim Burg, der den eigenen Onkel henkt.
Seligmann: Ja, der letztere eine reale Figur. Den hat es gegeben. Es ist so, die Täter vergiften auch die Opfer. Und es gibt auch Opfer, die sich mit den Tätern identifizieren. Das wissen wir. Und natürlich leiden die Opfer darunter, dass sie sich irgendwie mit den Tätern arrangieren mussten, um zu überleben. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Und natürlich rühren daher Schuldgefühle. Nur ist jemanden demütigen und ausrotten eine Sache und sich um des Überlebens willen arrangieren müssen die andere. Das wird oft vergessen, wenn man sagt: Ja bitte, wir hatten die SS und die Juden hatten ihre Ghettopolizei. Aber dass es diese Schuldgefühle gibt, ist evident. Ich habe das im "Milchmann" so ausgedrückt: Man kann in der Hölle nicht kalt bleiben. Wenn einer aufrecht gewesen wäre, aufrecht nach unseren Maßstäben der Freiheit, dann hätte er agieren, Widerstand leisten müssen. Das aber hätte den eigenen Tod bedeutet. Ich kann das nicht als Schuld sehen, auch wenn es dann später bei dem Einzelnen, der überlebt hat, zwangsläufig zu Schuldgefühlen führt. Und dann wurde da früher in Israel von zionistischer Seite auch noch gehöhnt, es hätten sich die Juden widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen. Wladyslaw Bartoszewski, ein polnischer Widerstandskämpfer und späterer Außenminister, hat dazu etwas sehr Richtiges gesagt: Es wurden sechs Millionen Rotarmisten gefangengenommen und weder in den Konzentrationslagern noch in den Gefangenenlagern, in die sie gesteckt wurden, gab es Widerstand. Wie hätten die Juden ihn leisten können?
Prangel: Haben Sie nicht Angst davor, mit der Ihren Texten impliziten Kritik am Jüdischen - und dazu gehört natürlich auch das ausführlich dargestellte Gezerre der Mammen an ihren Jingales, das Gezeter, Geschreie, Geschimpfe in den Familien, das Gefeilsche um Hochzeitsgeschenke, Mitgiften, Erbschaften (was alles es in je landesüblicher Form selbstverständlich auch unter anderen Menschen gibt) - haben Sie nicht Angst, so grotesk es klingen mag, missverstanden zu werden und als Jude latente antijüdische Ressentiments in diesem Land zu bedienen und dessen auch geziehen zu werden? Oder meinen Sie, man müsse sich dieser Gefahr eben aussetzen, wenn man auf den Stuhl des Gesellschaftskritikers klettere?
Seligmann: Das sind Fragen, die sich immer auf einen Satz reduzieren lassen: Ich bin überzeugt, dass ich Antisemiten keine Munition liefere, dass ich kein Nestbeschmutzer bin. Im Gegenteil. Ich liebe meine Romanfiguren, und jeder Mensch mit Gefühl kann sich in sie hineinversetzen. Ich habe von Nichtjuden Verständnis erfahren, ich bin von Nazis und Antisemiten beschimpft worden, bedroht worden bis hin zu Morddrohungen. Aber ich habe nie erlebt, dass auch nur ein Antisemit gesagt hat: Beim Seligmann siehst du, wie die Juden sind. Die Antisemiten wissen genau, warum sie mich hassen. Weil ich die Juden menschlich mache. Weil ich ihnen menschliche Dimensionen gebe, weil ich sie herunter hole von dem Podest der papierenen Alleskönner und Allesverzeiher und Allesversteher. Mein schönstes Erlebnis war es, als ich in einer Schule mit vielen türkischen Schülern gelesen habe, und die sagten: Ja, deine Roman sind ganz gut, sie haben nur einen großen Fehler, du sagst immer Juden, du musst Juden ausstreichen und Türken drüber schreiben. Es geht um Menschen. Ich habe es bei Deutschen im Ausland erlebt, dass die mir sagten: So wie deinen Juden in Deutschland, so geht es uns Deutschen im Ausland. Es gibt viele Juden mit einem sehr schwachen Selbstbewusstsein, die meinen, man müsse sie an der Hand nehmen und ihnen sagen, wo es lang geht. Wenn sie ihrer Sache einigermaßen sicher wären, ihrer Judenliebe und ihres Volkes, dann hätten sie es nicht nötig, sich in einen goldenen Käfig stellen zu lassen. Nochmals ganz deutlich: Ich bin kein Nestbeschmutzer, ich liebe mein jüdisches Volk, meine jüdischen Romanfiguren, und ich ernte ¾ das kann ich beim Blick auf den Absatz meiner Bücher sagen ¾ sehr viel Verständnis. Und auch bei den zahlreichen Buchbesprechungen. Das Aufschreien der Juden zeigt nur ihre Ängste, nichts anderes. Sie haben Angst, dass die überall lauernden Antisemiten uns womöglich wieder etwas Neues vorwerfen könnten. Doch die Antisemiten wissen von vornherein, dass die Juden schlecht sind. Was brauchen die da die Bücher Seligmanns?
Prangel: Reden wir aber auch von den Deutschen, den sogenannten wohlmeinenden Deutschen. Sie sprechen von deren "Betroffenheitsritualen", von ihrem "lächerlichen Philosemitismus", von ihrer endlos zum Misserfolg verdammten "Vergangenheitsbeschwörung". In einem journalistischen Text von 1999 werfen Sie den Deutschen im Grunde genau das gleiche vor wie den Juden, wenn es heißt: "Aus Betroffenheit über die Nazi-Vergangenheit ihrer Nation vergessen viele wohlmeinende Deutsche Gegenwart und Zukunft. Sich heute in Deutschland mit Juden zu beschäftigen gleicht dem Freizeitvergnügen von Schmetterlingssammlern. Es ist vorwiegend eine Beschäftigung mit toten Wesen. Wenn Deutsche heute mit oder über Juden diskutieren, dann finden vielfach Phantomgespräche statt. Man redet vorwiegend über jüdische Opfer." (Die Welt vom 27. August 1999) Als ich den Roman "Der Musterjude" las, war ich aus verschiedenen Gründen ratlos. Einer lag darin, dass ich mich fragte: Kann man sich als Deutscher gegenüber Juden überhaupt 'richtig' verhalten? Denn ob Deutsche sich in jenem Roman an den Holocaust erinnern oder ihn aussparen, ob sie sich verteidigen oder demütig und schuldbewusst das Haupt beugen, ob sie über gewisse Witze lachen oder entsetzt sind usw., sie scheinen immer auf dem falschen Bein zu stehen. Gibt es überhaupt ein Entrinnen. Können sie sich 'richtig' verhalten? Mir persönlich ist es, da mir der Verlust der Unbefangenheit furchtbar ist, schon längst am liebsten, wenn ich überhaupt nicht weiß, wer Jude ist und wer nicht.
Seligmann: Dann ist ja alles bestens. Genau das will ich. Es geht nicht darum, ob einer Jude ist oder Nichtjude. Mir geht es darum, ob jemand ehrlich ist, ob jemand human ist und ob jemand witzig ist, witzig im Sinne von geistreich. Wenn das gegeben ist, dann akzeptiere ich ihn, bin gern mit ihm zusammen oder mit ihr (da kommt ja noch Erotik hinzu). Und wenn nicht, dann langweilt es mich. Und diesen gleichen Anspruch erhebe ich im realen Leben wie in der Literatur.
Prangel: Aber kann man nach Auschwitz noch unbefangen sein?
Seligmann: Da muss man üben. In der nächsten Generation schon wird es so weit sein, dass die Kinder sagen: Hört auf, ich will diese Schuldgefühle nicht, es interessiert mich alles nicht unmittelbar, ich habe nichts getan, fertig. Und das erinnert mich an eine andere Geschichte: Der Vater eines Freundes starb. Ich war nicht schuld daran, genau so wenig wie heutige junge Leute Juden umgebracht haben. Als ich diesen Freund einmal besuchte, merkte ich, dass der Vater tot war, ohne dass darüber gesprochen wurde. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich zu feige war, davon zu reden. Und meinem Freund war es auch unangenehm. Wir standen da wie zwei Idioten, haben uns eine Stunde unterhalten, dann bin ich nach Hause gegangen. Hinterher habe ich meinen ganzen Mut zusammengekratzt, bin noch einmal hingegangen und habe gesagt: Du, ich nehme an, dein Vater ist tot, ich hab mich nicht getraut danach zu fragen, du hast dich nicht getraut es zu sagen. Von dem Moment an konnten wir wieder unbefangener miteinander reden. Wenn hingegen beide in der Befangenheit verharren, dann wird es immer schlimmer.
Prangel: Noch einmal zum "Musterjuden". Denn ich sagte, es habe mich das Buch aus verschiedenen Gründen ratlos und deprimiert zurückgelassen. Der zweite Grund liegt darin, dass der Leser dort, von nur wenigen Lichtblicken abgesehen, in eine Welt, die hier die Welt der Medien ist, versetzt wird, in der, gleichgültig ob Jude oder nicht, jeder jeden zu belügen, zu hintergehen, zu betrügen, zu übervorteilen, aufs Kreuz zu legen versucht. Ich will nicht etwa anmahnen, es sei die wirkliche Welt, bitte schön, doch hoffentlich wenigstens ein klein wenig besser, als Sie sie dort abbilden. Als Journalist, der Sie waren und ja u.a. auch noch immer sind, werden Sie wissen, wovon Sie reden. Gibt es keine Hoffnung mehr?
Seligmann: Nach meinen realen Erfahrungen geht es in den Medien zum größten Teil noch viel schlimmer als in dem Buch zu. Im Buch wird ja zumindest noch über alles gelacht, gibt es noch den auflockernden Sex, die hysterischen Mütter. In Wirklichkeit geht es viel härter zu als in dem "Musterjuden". Das muß man leider so akzeptieren. Es gibt durchaus auch Freundschaften in den Medien, und ich selber habe Freunde dort. Doch es ist ein eisenhartes Geschäft. Und genau so geht es in der Geschäftswelt zu. Man weiß oft gar nicht, woher die Intrige kommt und plötzlich ist man weg. Das ist in den Medien der Alltag. Es ist völlig anders als in Ihrem wissenschaftlichen Elfenbeinturm, wo es auch Intrigen gibt (ich habe ja ebenfalls an der Universität gearbeitet). Aber ich kann Ihnen versichern, die meisten Hochschularbeiter, Assistenten und Professoren, wären in den Medien innerhalb von wenigen Tagen ausgeschaltet. Es sind dort ganz andere Charaktere, viel härter, viel rücksichtsloser, viel intriganter. Und das ist so. Alles andere wäre Satire. Und ebenso habe ich meine Mutter in der "Jiddischen Mamme" und im "Rubinstein" viel harmloser gechildert als sie in Wirklichkeit war.
Prangel: Es ist kaum übersehbar, dass die Atmosphäre, in der das Gespräch über Nazizeit, Krieg, Holocaust, Juden geführt wird, in Deutschland zur Zeit vergiftet ist. Es herrscht ein Klima der Antisemiten-Suche, der Verdächtigung, der Denunziation geradezu, in das nicht nur Walser (zum Teil durch eigenens Verschulden), sondern u.a. auch Grass nach seinem Buch "Im Krebsgang" und, ebenso abwegig, Peter Schneider nach seinem Bericht "Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen" hineingezogen wurden. Es will scheinen, als könne die Gesellschaft Differenzierungen, Korrekturen, überhaupt das Konkrete, den individuellen Fall im Hinblick auf unser Thema immer weniger ertragen und suche zweifelhafte Sicherheit immer krampfhafter, weil immer aussichtsloser, in Sprechblasen, mit denen letztlich die Degradierung der Juden zur Satisfaktionsunfähigkeit stattfindet. Ist aus dieser Atmosphäre auf absehbare Zeit ein Ausweg möglich?
Seligmann: Nein! Nein, leider nicht. Deutsche, übrigens ähnlich den Juden, sind ein hoch hysterisches Volk. Es hält keine Differenzen und Kontroversen aus und wird sogleich prinzipiell. Wenn ich einem Briten sage, er sei ein hässlicher Typ, dann wird er entweder fuck yourself oder gar nichts sagen. Ein Deutscher dagegen ist in seinem Ego sofort zutiefst erschüttert.
Prangel: Im Vergleich etwa zum einschläfernden niederländischen Konsensdenken habe ich dennoch den Eindruck, dass Deutschland eine hoch entwickelte Streitkultur besitzt.
Seligmann: Mag sein. Aber schauen Sie sich einmal die Juden in Israel an. Und dann die Italiener und noch andere Völker. Es wird in Deutschland wirklich alles gleich prinzipiell. Blicken Sie nur auf die Auseinandersetzung um die frühere DDR. Statt sich zu freuen, dass man eine historische Chance in den Händen hält, das Vaterland wieder zu vereinigen, dass 17 Millionen Deutsche ihre Freiheit, Demokratie haben, dass die Wirtschaft Chancen hat, wird alles zerredet und verschachert. Es wird sofort nachgerechnet, was das kostet, wieviel ich Soli zu zahlen habe. Und diese Kleinkrämer- und Geizmentalität in Deutschland ist fatal. Das hat Ruth Klüger in ihrem Kindheitsbericht "Weiter leben" sehr schön beschrieben. Den Juden wurde immer der Geiz, die Habgier zugesprochen. Und natürlich gibt es auch habgierige Juden. Nur, dass ein Volk so materiell und so geizig und so habgierig ist, dass es den Toten noch die Goldzähne herausreißen ließ, das hat nicht einmal Stalin im Gulag fertiggebracht. Nein, für mich ist es eine riesige historische Chance, dass dieses Land wiedervereinigt in Freiheit und Demokratie lebt. Und wir dürfen nicht den Fehler machen, das zu zerrechnen. Wenn eine Gesellschaft nicht einmal darüber in Freude zu bringen ist, wie soll sie dann mit ihrem furchtbaren Vergangenheitstrauma fertig werden? Übrigens war für Adenauer wie für Kohl ein entscheidender Grund für die Einbindung Deutschlands in Europa, dass beide Angst vor ihren Deutschen hatten. Diese Angst muss überwunden werden. Die Leute in diesem Land müssen aufhören, vor sich selbst Angst zu haben. Und von dem Moment an, da die Deutschen aufhören, vor sich selbst Angst zu haben, müssen die Juden und die anderen auch keine Angst vor ihnen haben.
Prangel: Mit den Schwierigkeiten des Umgangs mit Juden und dem Jüdischen in Deutschland hängt auch folgendes zusammen: In "Der Milchmann" gibt es eine Passage, die von einem geplanten, dann aber in Deutschland nicht realisierbaren Film "Der Musterverkäufer" handelt. Geht das womöglich auf einen tatsächlich fehlgeschlagenen Versuch zurück, Ihren Roman "Der Musterjude" zu verfilmen oder liegt die Bedeutung der Stelle nur darin, dass Sie das Fehlschlagen solchen Versuchs heute für durchaus möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich halten?
Seligmann: Nein, es gab diese Versuche wirklich. Es haben einige durchaus renommierte Filmgesellschaften versucht, diesen Film zu realisieren. Doch dann hieß es immer: Um Gottes Willen, diese Thematik und dieses Aufrühren von Gefühlen, das ist wahnsinnig schwer, es ist eigentlich doch kein Thema, wir wollen jetzt was Fröhliches und Spaßiges, und jetzt noch die Juden da hineinzubringen.... Das Schlimmste, was ich in meinem Leben erlebt habe, war der Film "Shalom meine Liebe". Es ist eine absolut harmlose deutsch-jüdische Liebesgeschichte. Aber vor lauter Unsicherheit und gleichzeitig Profilierungssucht ist dieses läppische Drehbuch dreieinhalb Jahre hin und her und her und hin gezogen worden, und ich bin wirklich nach allen Regeln der Kunst gemobbt und fertiggemacht worden und das nicht nur, weil es um mich als Person ging. Der verantwortliche Redakteur und der Produzent wollten beide gerne die jüdische Thematik haben, doch ohne real existierende Juden. Ich empfinde es als fatal, wie die Juden dort schließlich dargestellt wurden. Ich habe mich dagegen gewehrt, konnte aber nichts tun. Da wurden für die jüdischen Rollen israelische Darsteller genommen, die gar nicht richtig deutsch sprechen konnten. Als ich nach den Gründen fragte, hieß es: Ja, diese tollen Gesichter, die sehen aus wie die Juden, wie man sich Juden vorstellt. Die Juden tragen da Bärte, sie sprechen ein gebrochenes Deutsch. Wozu? Man hätte den Film viel schöner, vor allem aber sinnvoller machen können. Ich wollte die Juden als Nachbarn von nebenan zeigen, mit spezifischen Verhaltensmustern und Sitten und Religion, aber eben als Menschen wie du und ich. Und plötzlich wurden sie als Exoten dargestellt.
Prangel: Die meisten Ihrer Romane leben ganz von der dialogisch-szenischen Gestaltung. Das ist, ich erwähnte es schon, eine hervorragende Mimikry. Es gelingen Ihnen da aber vor allem auch in ihrer Direktheit, Ungeschöntheit, Banalität sehr eindrucksvolle, lebensvolle Bilder deutsch-jüdischer Realität. Oder Karikaturen? Und noch eines: Haben Sie einmal daran gedacht Dramen zu schreiben? Fontane allerdings war ja auch ein Meister, der Großmeister schlechthin des Gesprächs, ohne jemals Dramen zu schreiben.
Seligmann: Dazu ist zweierlei zu sagen. Erstens habe ich das nicht wegen der Mimikry veranstaltet, sondern weil ich gerne Dialoge lese. Früher habe ich einfach die Seiten, die rein beschreibend oder berichtend waren, umgeblättert und nur sehr genüsslich die Dialoge gelesen. Wie eine Landschaft sich in einem Regentropfen bricht und was der Autor sich dabei gedacht hat, das interessiert mich nicht. Vielleicht eine biblische Tradition. Denn in der Bibel wird gesagt, was getan wird, nicht dauernd, was gedacht wird. Das zweite ist, ich habe tatsächlich einmal ein Drama über eine Talkshow geschrieben. Das wurde auch sofort vom S. Fischer Verlag angenommen. Nur die deutschen Bühnen kamen mit endlosen Ausreden, das Thema sei zu heiß und gefährlich. Wenn mir einer sagt, dass ich schlecht geschrieben habe, dann akzeptiere ich das sofort. Aber wenn einer sagt, was ich geschrieben habe rühre an zu viele Empfindlichkeiten, dann ist das identisch mit Feigheit. Ich hätte durchaus noch einmal Lust, ein deutsch-jüdisches Drama zu schreiben. Aber es herrscht zu große Angst in Deutschland, solche Dinge auf die Bühne zu bringen.
Prangel: Mir scheint, als seien Sie mit dem "Milchmann" in eine für Sie neue Dimension der stilistischen Bewusstheit, der literarischen Strukturierung und - bei allem Humor - der Ernsthaftigkeit vorgestoßen. Jedenfalls ist plötzlich der unangenehme Beigeschmack verschwunden, den mir in den anderen Büchern gelegentlich der all zu arglose Umgang mit der vorgefundenen Sprache, die Reihungen von immer demselben, die Purzelbäume und Überdrehungen in der Handlungsführung oder die Trivialität in der Behandlung des Sex (auch wenn der ja womöglich tatsächlich etwas eher Triviales ist) verursachten. Sehe ich da am Ende etwas falsch, und ist, was ich hier als literarisches Defizit bemängele, in Wirklichkeit als gezielte Aktion, als Methode zu einem Zweck zu verteidigen? Die meisten Ihrer Texte scheinen jedenfalls keine Berührungsängste gegenüber dem Trivialen zu kennen.
Seligmann: Nein, nein, sollen Sie auch nicht. Also die Analyse überlasse ich Ihnen. Ich schreibe die Bücher für mich und auch für meine Frau. Sie spiegeln meine Stimmungen, meine Ideen und meine Gefühle. Und natürlich schreibt man mit über fünfzig anders als mit Mitte dreißig. Aber wie man das einordnet, das ist Ihr Job. Ich schreibe so, wie ich denke, dass es meinen Gefühlen und Ideen gerecht wird. Man schreibt zum Beispiel über Sex als Zwanzigjähriger oder Dreißigjähriger anders wie als Fünfzigjähriger. Der Rubinstein im ersten Roman will vögeln, um jeden Preis vögeln. Das ist eben so sein Ego. Er zerbricht sich als Zwanzigjähriger nicht riesig den Kopf. Als Fünfzigjähriger fände ich es aber lächerlich, über den Sex von Zwanzigjährigen zu schreiben und da irgendwelche Ideen, Gefühle hinein zu projizieren, die ein Zwanzigjähriger nicht hat. Als Zwanzigjähriger will man Sex und Spaß. Als Fünfzig- oder Sechzigjähriger hat man nicht mehr so viel Sex, also hat man mehr Zeit zum Nachdenken und Reflektieren. Und entsprechend schreibt man.
Prangel: Man erfährt aus Ihren Büchern sehr viel über Juden. Nicht nur über ihre politischen Ansichten, auch über ihre Geschichte, Tradition, Religion, Bräuche, ihr alltägliches Verhalten. Sehr viel mehr jedenfalls als aus vielen abstrakten Sachbüchern zum Thema. Insofern kommt Ihren Büchern durchaus eine volksbildnerische Wirkung zu. Um das Ausmaß dieser Wirkung ermessen zu können: Können Sie ein paar Auskünfte über Auflagenhöhen Ihrer Bücher und Einschaltquoten bei der Fernsehausstrahlung von "Shalom meine Liebe" geben?
Seligmann: Ja sicher. Ich bin ja kein Verlagsmanager. Die Romane haben alle eine Auflage um die 30000, nur "Die jiddische Mamme" etwas weniger. Beim "Milchmann" muß man noch abwarten, weil nach den drei Auflagen des Premium-Bandes bei dtv mit ihren 15000 Exemplaren im Dezember das Taschenbuch kommt, wodurch dieser Titel wahrscheinlich die höchste Gesamtauflage machen wird. Und beim "Milchmann" gibt es jetzt interessanterweise ernsthafte Bemühungen, einen Film zu machen, der dann sicher die Auflage noch steigern würde. Andererseits hatte "Shalom meine Liebe", von allen Büchern die geringste Auflage, obwohl der Film recht gut lief. Er wurde einmal nach 22.00 Uhr, dann noch einmal nach 23.00 Uhr gesendet und hatte drei Millionen Zuschauer. Das ist für einen Fernsehfilm zu so später Stunde, der ja gegen vielfache Konkurrenz läuft, sehr gut.
Prangel: Und von welcher Arbeit werden wie als nächster hören?
Seligmann: Das wird jener ungefähr 250seitige Essay "Hitler. Die Deutschen und ihr Führer", den ich vorhin schon kurz erwähnte. Die Kernfrage lautet da: Wie konnte das deutsche Volk in seiner relativen Mehrheit diesen Mann wählen? Hitler erhielt ja 1928 nur ganze 640.000 Stimmen. Zwei Jahre später waren es 6,4 Millionen. Und 1932 zwischen 16 und 17 Millionen. Wie war das möglich? Meine These ist die, dass Hitler viele Ideen vertreten hat, die in den deutschen Köpfen seit langem schon herum spukten. Es waren nicht nur, doch auch antisemitische Ideen. Es fehlte in Deutschland ein großflächiges rationales Denken wie es in den angelsächsischen Ländern und auch in Frankreich bei allen Abstrichen vorhanden ist. Drum passt mir eben auch Herr Walser, der Wirrkopf, je älter er wird immer weniger. Es gab ja ab 1930 eine 1940 nach dem Sieg über Frankreich sich zum Orgasmus steigernde regelrechte Verliebtheitsphase der Deutschen in Hitler. Es interessiert mich die Frage, warum sich die Deutschen in Hitler verliebt haben. Warum sind sie für ihn in den Krieg gezogen und haben getötet? Warum hat die SS und von 1941 an auch die Wehrmacht für ihn gemordet? Warum ist es ab 1941 zum Vernichtungskrieg für ihn gekommen? Und warum haben die Deutschen ab 1943 sukzessive Selbstmord für ihn begangen? Die Italiener sind 1943 ausgestiegen. Die Deutschen aber haben weitergemacht. Bis zum Selbstmord. Warum, das behandele ich in dem Essay.
Das Gespräch mit Rafael Seligmann wurde am 13. Juni 2002 in Berlin geführt.
Rafael Seligmann wurde 1947 in Israel als Sohn aus Deutschland emigrierter jüdischer Eltern geboren. Als Zehnjähriger kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück Er machte dort das Abitur, absolvierte eine Handwerkslehre und studierte in München und Tel Aviv Geschichte und Politik. Nach der Promotion war er als Journalist u. a. Chefredakteur der "Jüdischen Zeitung", Referent für Außenpolitik in Bonn und zwischen 1985 und 1988 Dozent am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München. Von 1989 an ist er als freier Journalist und Schriftsteller tätig. Er lebt seit einigen Jahren in Berlin.
Neben politologischen und journalistischen Arbeiten erschienen von Rafael Seligmann:
- Rubinsteins Versteigerung, Roman,1988 Selbstverlag, 1989 Eichborn, 1991 dtv.
- Die jiddische Mamme, Roman, 1990 Eichborn, 1996 dtv.
- Mit beschränkter Hoffnung, 1991 Hoffmann und Campe, 1992 Knaur.
- Der Musterjude, Roman, 1996 Claassen, 1999 dtv.
- Shalom meine Liebe, Roman, 1998 dtv.
- Der Milchmann, Roman, 1999 dtv.
Das Gespräch erschien zuerst in: Deutsche Bücher, Forum für Literatur 2003 (Jg. 33), H. 1, S. 5-22.