"Für das bisschen Spaß versaust du dir das Leben"
Michael Kumpfmüller protokolliert in "Durst" den Doppelmord einer jungen Mutter
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Hitze verdirbt das Denken schnell, gibt man Versuchungen eher nach als sonst. Der Sommer 1999 war heiß. Nicht so heiß wie der 2003, aber heiß genug. Für jene junge Mutter aus "F." etwa, die angesichts versteppender Wiesen vor ihrer Wohnsiedlung auf Wanderschaft geht. Überwältigt von einem brennenden Durst nach einem schöneren Leben, flieht sie. Um tagelang, wie an einer unsichtbaren Leine hängend, nur durch ihre kleine Welt zu irren, mit einem Einkaufszentrum, das "Paradies" heißt, und einem "Liebhaber", der ihr mit Sätzen wie "Ich fick dich gern" schmeichelt.
Fast zwei Wochen lang versucht Conny, ihrer traurigen Existenz zu entkommen. Befriedigt für ein paar Mark einen Nachbarn, geht mit ihrer sexsüchtigen Freundin shoppen, kauft sich Plüschtiere. Bewundert den dicken Albert, der Tiere quält; lässt ihren Freund seine Phantasien an ihr ausprobieren. Gibt sich in der Disco für ihre Zwillingsschwester aus. Immer auf der Suche nach ihrer Identität. Stillen kann sie ihren Durst nicht. Durst haben derweil auch ihre Söhne, drei und vier Jahre alt, die die Alleinerziehende eingesperrt hat. Bei ihrer Rückkehr sind sie tot.
Man liest manchmal von solchen Fällen, verständnislos. "Durst" hat den der Daniela J. zur Vorlage. Die damals 23-Jährige, die von Kindergeld und Sozialhilfe lebte, ließ im Juni 1999 in Frankfurt/Oder ihre beiden Kinder allein zurück, während sie nur ein paar hundert Meter von ihrer Plattenbauwohnung entfernt zwölf Tage lang bei ihrem Freund wohnte. Die Richterin warf ihr Egoismus und Gefühllosigkeit vor. Trotz erheblicher Persönlichkeitsstörungen galt sie ihr für voll schuldfähig und erhielt lebenslänglich. Eine für solche Fälle bewährte Antwort der Gesellschaft.
Ein literarische wäre wohl eher von Marlene Streeruwitz zu erwarten gewesen als von Michael Kumpfmüller. Nach "Hampels Fluchten", mit dem der promovierte Germanist und Historiker - mit freundlicher Unterstützung der "F. A. Z." - zum Shootingstar des Jahres 2000 avancierte, ist "Durst" eine Überraschung. Davon, dass Kumpfmüller, um der Fallgrube "zweiter Roman" zu entgehen, bewährte Erfolgsrezepte wiederholte, kann jedenfalls keine Rede sein: War sein Erstling ein durch Raum und Zeiten springendes, süffig erzähltes deutsch-deutsches Schelmenepos, so liefert er jetzt das Protokoll eines Kriminalfalles, streng chronologisch für jeden Tag ein Kapitel, risikofreudig beinah ausschließlich erzählt aus der Innensicht einer- ja was? Verbrecherin? Wahnsinnigen? "Rabenmutter", wie die Boulevardblätter gerne titeln? Es ist so leicht, eine Grenze zu ziehen zwischen sich und dem Anderen, und so schwer, sich einzugestehen, dass diese Grenze mitten durch einen selbst geht.
Nicht zuletzt, um auch daran zu erinnern, gerade in Zeiten selbstgerechter Skandallust, gibt es Literatur. In der deutschsprachigen haben mordende Mütter, "Engelmacherinnen", seit Heinrich Leopold Wagner und Goethe eine lange Tradition, Kehrseite des deutschen Mutter-Mythos. Tradition haben freilich schon seit Moritz und Schiller auch die Versuche, mit psychologischem Wissen und den Mitteln der Fiktion das Innere einer abweichenden, Untaten begehenden Psyche nacherlebbar, verstehbar zu machen.
Was ist das Böse? "Jemanden vergessen, nicht an ihn denken, obwohl man könnte: Das war böse", erkennt Kumpfmüllers Protagonistin schon zu Beginn. Warum sie es doch tut, einmal sogar rasend vor Mordlust mit einem Skalpell vor ihrer Wohnungstür steht, hinter der ihre Kinder womöglich längst verdurstet sind, dann wieder zärtliche Gefühle für sie hat, ihnen in Gedanken ihre baldige Rückkehr verspricht, lässt der Berliner Romancier den Leser aus Connys Tunnelblick heraus miterleben. Eine beklemmende, beunruhigende Lektüre, die verstärkt wird durch das Wissen um den tragischen Ausgang, durch das ständige Auf- und wieder Abtauchen der Kinder im Bewusstsein der jungen Mutter, die - wie schon jener Heinrich Hampel - im Grunde selbst noch ein Kind, vom Erwachsensein überfordert ist, wie der Text nahe legt. Und durch Kumpfmüllers atemlose, empathische Prosa aus Sätzen, die immer etwas weiter gehen, als man denkt, die sich vor dem erlösenden Punkt geradezu zu scheuen scheinen.
Aber auch eine ratlos machende. Denn so minutiös und plausibel Kumpfmüllers Rekonstruktion ist, sie fördert einen ganzen Wust an Erklärungen und Ursachen zutage. Sie lässt den Leser zum Psychoanalytiker, Sozialpathologen und Gesellschaftskritiker werden, der angesichts dieses Frauenschicksals in einer kommunikationsunfähigen, pathogenen Welt immer fassungsloser wird. Eine Welt, in der der Andere nur entweder der eigenen Lustbefriedigung dient oder ein lästiger Klotz am Bein ist. Wie Connys Kinder, die "hässlichen Bälger", die "verdammte Brut". "Wenn man bedenkt, dass es nur ein paar Sekunden sind", sagt einmal ihre Freundin, "für das bisschen Spaß versaust dir das Leben". "Alles wird sehr anders", wenn man Kinder hat, weiß dagegen einer jener Männer, zu denen es Conny zieht, "man gewöhnt sich".
Was Kumpfmüller zeigt, ist, wie leicht sich da ein ursprünglicher, amoralischer Lebenswille einer geschwächten Person bemächtigen kann. Trotzdem ringt manchmal etwas in Conny darum, die innere Abgestumpftheit zu überwinden, das Rätsel von blindem Vertrauen zu verstehen. Einmal erklärt sie einem Mädchen, was man tun müsse, wenn man eingesperrt ist, "vor allem viel Wasser trinken"; man merkt, wie da im Unbewussten eine Schwundstufe von Liebe für ihre Kinder noch arbeitet.
Dann wieder wird diese Frau gepackt von Raserei, bis es zum "moralischen Kollaps" kommt, der sie ihre "Unschuld" verlieren lässt. Es ist die einzige anklagende Stelle in einem zutiefst menschlichen Buch, das vieles ist: eine Meditation über das Böse und eine Autopsie der allzu oft noch immer skandalösen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Der Roman ist nicht: das Protokoll eines "Verbrechens"; so nichtssagend erscheint einem am Ende dieses Wort.
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