Ein politischer Außenseiter

"Sich fügen heisst lügen" erinnert an den ungewöhnlichen Revolutionär Erich Mühsam

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ging fast alles ohne Blutvergießen ab und war zuerst sehr schön." Es war Revolution in Deutschland, und die melancholisch anmutende Zusammenfassung der Ereignisse schrieb in einem Brief vom 1. Dezember 1918 Erich Mühsam: "[...] ich war am 7. November nachmittags gegen 3/4 6 der erste Mensch Deutschlands, der öffentlich die Absetzung der Dynastien und die Errichtung einer freien bayrischen Räterepublik proklamierte." Eisner, so schrieb er weiter, "proklamierte um 1/212 Uhr nachts dasselbe, was ich 6 Stunden früher proklamiert hatte."

Doch der schöne Traum der Politintellektuellen, die in Bayern die Räterepublik proben wollten, war kurz. Nun ging es nicht mehr ohne Blutvergießen ab, und schön war es längst nicht mehr. Mit grausam-brutaler Konsequenz zerstörte die konservative Gegenmacht die traurige Revolution. Eisner ermordet, ebenso Landauer, Eugen Leviné standrechtlich erschossen, Mühsam in Festungshaft.

Erich Mühsam war ein aussergewöhnlicher Revolutionär in deutschen Landen. Geboren am 6. April 1878 in Berlin, verlebte er seine Kindheit und Jugend in Lübeck. Dort hatte es der Vater als Apotheker zu einigem Wohlstand gebracht, dem freilich der junge Mühsam den gewünschten Respekt verweigerte. Statt dessen prägte ihn ein tief sitzender Konflikt mit dem Vater, der seine nationalkonservativ-bürgerlichen Werten mit brachialen Erziehungsmethoden durchzusetzen sucht. Später resümierte Mühsam in einer Selbstbiographie lakonisch knapp: "Kindheit, Jugend, Gymnasialzeit in Lübeck; unverständige Lehrer, niemand, der die Besonderheit des Kindes erkannt hätte, infolgedessen: Widerspenstigkeit, Faulheit, Beschäftigung mit fremden Dingen."

Nachdem Mühsam wegen "sozialistischer Umtriebe" das ehrwürdige Katharineum, mit dessen "Abrichtungsmethoden" auch die Mann-Brüder Heinrich und Thomas Bekanntschaft gemacht hatten, verlassen musste, begann er zunächst die väterlicherseits ersehnte Apothekerlehre. Jedoch als er um die Jahrhundertwende nach Berlin kam, war's bald aus mit der bürgerlichen Existenz: Mühsam wurde zu einem literarischen Bohèmien, wie man ihn bislang in Deutschland nicht gekannt hatte. Zunächst erstaunte das Äußere: Ein vermeintlich bürgerlicher Aufzug mit - schlecht sitzendem - Anzug, Weste, Spazierstock und Kneifer, dazu eine wüste Langhaarfrisur und ein wilder Bart. Mühsams Auftritt war ein bewusster Affront gegen die Fremdbestimmtheit einer bis ins letzte Glied verknöcherten Kaisergesellschaft, die vor allem eins: Unterordnung! verlangt. Doch wollte Mühsam mehr als nur ein individualistisch geprägtes, plakatives, letztlich ,asoziales' Außenseitertum demonstrieren. "Was in Wahrheit den Bohèmien ausmacht," schrieb er 1906, "ist die radikale Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte." Damit ihm dieses aber nicht bloß zum bestaunten Sonderling ausserhalb des "vertrottelten Konventionsdrills der Gesellschaft" machte, dem jegliche Kraft zur gesellschaftsverändernden Revolution fehlte, verband Mühsam die extensiv gelebte Bohèmeexistenz in Berlin und in Schwabing, wo er seit 1909 lebte, mit den politischen Ideen des Anarchismus. 1906 schrieb er: "Der Haß gegen alle zentralistischen Organisationen, der dem Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchische Prinzip der sozialen Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohèmenaturen."

Wo aber solche Naturen als Verbündete für eine gesellschaftliche Umwälzung finden? "Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler - das ist die Bohème, die einer neuen Kultur den Weg weist." Mit solchen Revolutionstheorien, die Mühsam in eigenen Zeitschriften und Tagesschriften immer wieder neu unters Volk zu bringen suchte, galt er unter den bedächtigen Politprofis der reinen Lehre von der sozialistischen Revolution als kurioser Störenfried. Umgekehrt ließ Mühsam keinen Zweifel an seiner Verachtung für die "Revoluzzer, im Zivilstand Lampenputzer", die Bücher schreiben darüber, "wie man revoluzzt und dabei doch Lampen putzt." Mit solch spitzfindigen Frechheiten, deckte Mühsam peinliche Widersprüchlichkeiten in der gediegen-ordentlichen Form der sozialistischen Revolutionsplanungen auf. Da herrsche, so schrieb er 1909, eine von "Kompromißmachen", "Sicheinrichten" und "Sichbequemmachen" bestimmte ",revolutionäre' Beflissenheit" sogenannter ",Proletarier', deren ganze Hoffnung es ist, einmal selbst Fabrikinspektor zu werden oder als Fünfgroschenrentier von den Zinsen ihres Kapitälchen [...] leben zu können."

Nach dem missglückten Revolutionsexperiment in Bayern, das er in führender Funktion mitgestaltet hatte, wurde Mühsam zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt. Nach der Haftentlassung 1924 verließ er München und ging nach Berlin. Doch schien seine Zeit vorbei: Seine Bohème-Attitüde wirkte auf die Zeitgenossen altbacken, man wunderte sich über den Sonderling, dessen politisches Programm der anarchischen Revolution ihn innerhalb der etablierten Linken zum Aussenseiter gemacht hatte. Die Nazis dagegen hatten den unkonventionellen Querdenker immer auf ihren schwarzen Listen. Es fehlte nur noch ein Anlass, um seiner habhaft zu werden. Im Februar 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, wurde Mühsam verhaftet. Am 9./10. Juli 1934 wurde er im Konzentrationslager Oranienburg ermordet.

Leben und Werk Mühsams, dessen Nachlass von seiner 1962 in der DDR verstorbenen Frau Kreszentia Elfinger ("Zenzl"), die er 1915 geheiratet hatte ("diese Frau hat mir der Himmel geschickt."), zunächst nach Moskau verbracht worden war, ehe er in Teilen seit den 50er Jahren wieder in Deutschland verfügbar wurde, würdigt die vorliegende zweibändige in revolutionsrot gehaltene Ausgabe in Texten und Bildern. Der Titel "Sich fügen heisst lügen" zitiert eine Zeile des Gedichts "Der Gefangene" (1919), das in bayrischer Haft entstanden war. Auch wenn die Mühsam-Texte heute von einem altmodisch anmutendem Revolutionspathos getragen wirken, so ist doch die in ihnen aufscheinende ungewöhnliche Verbindung von Bohème, Lumpenproletariat, Anarchie und Revolution immer noch lesenswert. Die Texte erinnern an einen Menschen, der sein privates Aufbegehren gegen die bedrückende Starre der Wilhelminischen Gesellschaft in politisches Verantwortungsbewusstsein überführte. So gab er seinem Leben einen tapferen Sinn - zunächst gegen die unverständigen ihn belächelnden Zeitgenossen, schließlich gegen die brutale Einfältigkeit seiner Mörder. Das ist Mühsams bis heute wirksames Vermächtnis: Die Mahnung zur gesellschaftspolitischen Verpflichtung derer, die sich immer wieder gerne Avantgarde nennen.

Titelbild

Marlies Fritzen (Hg.): Sich fügen heißt lügen. Leben und Werk in Texten und Bildern. Katalog zur Ausstellung Erich Mühsam, Buddenbrookhaus Lübeck.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
272 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 388243886X

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