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Marcel Reich-Ranicki gibt in "Lauter schwierige Patienten" einmal mehr den Onkel Doktor des Literaturbetriebs

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Buch von Marcel Reich-Ranicki gleicht einem Déjà vu, denn fast alles, was es von ihm in Buchform zu lesen gibt, wurde bereits vorher irgendwo veröffentlicht. Sein Buch "Lauter schwierige Patienten" bildet da keine Ausnahme, basiert es doch auf einer Reihe von Gesprächen, die der Literaturkritiker mit dem "SWR"-Intendanten Peter Voß im vorletzten Jahr für das deutsche Fernsehen geführt hat. Und auch was der Literaturpapst in dieser Sendung zum Besten gegeben hat, kam einem Reich-Ranicki-Kenner recht bekannt vor: es waren vor allem unterhaltsame Anekdoten über prominente Autoren des 20. Jahrhunderts, die Reich-Ranicki bereits mehrfach an anderer Stelle verbreitet hatte.

Nicht zum ersten Mal schlüpfte er dabei in die Rolle des Arztes. Als Literaturkritiker hat er diverse Rollen bekleidet, ist als Pädagoge, Anwalt, Kläger oder Förderer der Literatur aufgetreten und nicht selten als ihr Richter. Seine Paraderolle aber ist die des Arztes. In ihr operiert Reich-Ranicki nach dem alten Gegensatzpaar gesund/krank, untersucht Autoren und deren Werke und stellt oft niederschmetternde Diagnosen. Auch Heilungen sind möglich, so geschehen nach seinem legendären Verriss von Martin Walsers Roman "Jenseits der Liebe", der im Nachhinein als Schocktherapie zugunsten des notorisch "plappernden" Patienten legitimiert wurde und, wie sich an der enthusiastischen Besprechung von Walsers Nachfolgewerk "Ein fliehendes Pferd" demonstrieren ließ, durchschlagenden Erfolg hatte.

Ferndiagnosen lehnt Reich-Ranicki jedoch offensichtlich ab, und so behandelt er in seiner Gesprächsreihe mit Peter Voß nur solche Patienten, die er persönlich gekannt hat und die nicht mehr unter den Lebenden weilen - wofür der posthum Behandelnde nun wirklich nichts kann. Das Wartezimmer ist eindrucksvoll besetzt: Bertolt Brecht, Anna Seghers, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard und viele andere waren Gegenstand in der vom "Südwestrundfunk" und "3Sat" ausgestrahlten Sendung.

Über sie erfährt man vor allem biographische Details und Episoden, die von Reich-Ranicki durchaus originell präsentiert werden. Hinter all dem steht der Versuch, ein wenig von der Aura der zur Legende gewordenen Literaten zu vermitteln - die inszenierte Zerbrechlichkeit der Bachmann, die Monomanie des Thomas Bernhard, die Eitelkeit des Elias Canetti. Wenngleich er hierbei stets mit der Pose des Bewunderers kokettiert ("Ich bewundere XY wirklich, aberrr...!"), holt er seine Patienten gerne von ihrem Sockel, um seine eigenen Lieblingsmythen zu verbreiten: Die Romane der Nobelpreisträger Böll und Grass kann man getrost vergessen, und Frauen können sowieso nicht schreiben.

Im Grunde genommen sind diese Gespräche über weite Strecken nichts anderes als eine Form des literarischen Klatsches, der in gedruckter Form schnell seinen Reiz verliert. Freilich lenkt Reich-Ranicki das Gespräch immer wieder auf sein Lieblingsthema "Frauen". Anzügliches ist dem Kritikerpapst seit jeher nicht fremd, und auch sein Interview-Partner scheint es - im Hinblick auf die Quote - mit Genugtuung zur Kenntnis genommen zu haben, als Reich-Ranicki dem Auditorium im pseudodiskreten Gestus des "unter uns" en detail die bevorzugte Sexualpraktik Bertolt Brechts schilderte. Natürlich ist Reich-Ranickis diesbezügliches Interesse rein medizinischer Natur, jedoch hätte er sich als Arzt das ein oder andere Mal besser an seine Schweigepflicht halten sollen.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Lauter schwierige Patienten. Gespräche mit Peter Voss über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Propyläen Verlag, München 2002.
260 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3549071647

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