Mit Chatwin in Wales

Bruce Chatwins Roman "Auf dem Schwarzen Berg"

Von Carolin BiewerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolin Biewer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wales, 1899. Der mittelose Bauer Amos Jones kann sich glücklich schätzen, denn gleich zwei seiner Träume gehen in Erfüllung. Trotz des Standesunterschieds kann er seine große Liebe, die schöne Pfarrerstochter Mary Latimer heiraten, und dank ihrer Beziehungen erhält er einen Hof zur Pacht. Dieser Hof mit dem prophetischen Namen "The Vision" liegt auf dem schwarzen Berg, halb auf englischer, halb auf walisischer Seite, in einer kargen Landschaft fernab der Zivilisation. Mit Energie stürzt sich das junge Paar in die Renovierung des Hofes und das Bestellen des Landes, und trotz harter Rückschläge wird der schwarze Berg zu ihrer Heimat.

Ein mürrischer walisischer Bauer, eine weit gereiste englische Pfarrerstochter und ein heruntergekommener Hof in der Einöde auf dem schwarzen Berg. Eine Liebesheirat, die an Armut, dunklen Wintern und Nachbarschaftsfehden fast zerbricht. Und ein Zwillingspaar, das ungewöhnlicher nicht sein könnte. Das ist der Ausgangspunkt von Bruce Chatwins einzigem Roman, "Auf dem Schwarzen Berg", 1982 in England erschienen und jetzt in einer deutschen Neuübersetzung bei Hanser vorgelegt. Einmal mehr stellt Chatwin hier seine größte Kunst unter Beweis, die Kunst, exotische Geschichten zu erzählen, die uns doch im Inneren vertraut erscheinen und uns berühren.

Auf diesem Hof "The Vision" werden 1900 die eineiigen Zwillinge Lewis und Benjamin geboren. Sie teilen alles miteinander und wollen nichts zwischen sich kommen lassen. Wird Benjamin von einer Wespe gestochen, ist es Lewis, der den Schmerz spürt. Fragt die Lehrerin Lewis nach seinem Namen, antwortet dieser mit Benjamin. Im Diktat machen sie dieselben Fehler und geraten sie beim Fußballspiel einmal in zwei verschiedene Mannschaften, so ignorieren sie einfach die Spielregeln. Sie verbrennen ihr Spielzeug, um mit sich allein sein zu können. Und eines ihrer liebsten Spiele ist es, die Stirn aneinander zu drücken und sich in den Augen des anderen zu verlieren.

Das Leben auf dem schwarzen Berg ist rau. Die Winter sind düster, und durch die allseitige Armut eskalieren die Nachbarschaftsstreitigkeiten mit den Watkins. Tiere werden aus Hass sinnlos abgeschlachtet, der Heuschober geht in Flammen auf. Amos ist verbittert und wird gewalttätig gegenüber denen, die er liebt. Doch all dieses Elend kann den Zwillingen nichts anhaben. Ihre rührend kindliche Naivität, die sie sich bis ins hohe Alter bewahren, der Sinn für die Natur und das kleine Glück lassen für sie "The Vision" zum persönlichen Idyll werden, solange ihre Zweisamkeit nicht gestört werden kann.

Die größte Gefahr für die Zwillinge ist die Auseinandersetzung mit sich selbst. Benjamin entwickelt aus einer langen Krankheit heraus eine Vorliebe für Bücher, einer Welt, die Lewis verschlossen bleibt. Lewis träumt vom Reisen und vom Fliegen, Träume, die Benjamin ängstigen, da er fürchtet, von Lewis getrennt zu werden. Lewis interessiert sich früh für Mädchen. Benjamin liebt nur seine Mutter und seinen Bruder und denkt bei der Vorstellung, Lewis könnte eine Freundin haben, an Selbstmord.

Der offene Hass, der den Zwillingen nach dem ersten Weltkrieg als Kriegdienstverweigerer entgegenschlägt und der Tod der geliebten Mutter kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges aber bewirken, dass die Zwillinge wieder zueinander finden. Sie verlassen "The Vision" nicht mehr, pflegen ihre Zweisamkeit zum Preis ihrer Träume und finden zu dem inneren Frieden ihrer Kindheit zurück. Als mit Kevin, dem Enkel der Schwester, noch ein würdiger Erbe für den Hof, der mittlerweile ihnen gehört, gefunden ist, scheinen die Wunden von der Zeit geheilt, scheint nichts umsonst gewesen, das Glück ein größeres als erwartet. Doch dann stirbt Lewis und Benjamin bleibt nichts, als sich im Grabstein des toten Bruders zu spiegeln, halb Benjamin, halb Lewis.

"Auf dem Schwarzen Berg" ist mehr als ein walisisches "Die Asche meiner Mutter" oder die ländliche Verdopplung eines Forrest Gump. Er ist weder auf das freundliche Hinnehmen von schrecklichen Schicksalsschlägen der Armen noch auf die kindliche Naivität der Zwillinge zu reduzieren. Was diesen Roman zu etwas Besonderem macht ist die Fülle von Geschichten, die sich rund um die Zwillinge aufbauen, die Lebensskizzen von Charakteren wie Theo the Tent, Meg the Rock oder Reverend Thomas Tuke. Sie alle wirken wie Lewis und Benjamin lebensecht, mit ihren guten und schlechten Seiten. In ihrer persönlichen Art, das Leben zu meistern, berühren sie uns in unserem Inneren. Sie alle sind Charaktere, die einen so schnell nicht loslassen.

In einem Interview hat Bruce Chatwin einmal gesagt, er habe "Auf dem Schwarzen Berg" geschrieben, weil ihm sein Ruf als Reiseschriftsteller unbehaglich gewesen sei, und er über Leute schreiben wollte, die ihr ganzes Leben nirgendwohin gegangen seien. Tatsächlich spürt man in diesem Buch den Neid des ruhelosen, immerzu suchenden Reisenden gegenüber dem Daheimgebliebenen, der seinen inneren Frieden längst gefunden hat. Doch auch dieses Buch nimmt den Leser mit auf eine Reise. Auf eine Reise in ein exotisches Wales vergangener Tage. Ausgehend von den Familienfotos an der Wand in der Küche der nun schon fast 80-jährigen Zwillinge werden wir zurückversetzt in das Jahr 1899. Stückweise werden uns nun die Geschichten zu diesen Bildern erzählt, bis sie sich zu einem Panorama zusammensetzen, dem Leben der Leute auf dem schwarzen Berg. Der Epilog aber beendet diese Zeitreise und führt uns in das Jahr 1981, die Gegenwart. Lewis ist tot, Kevins Frau hat die Bilder aus der Küche auf den Dachboden verbannt. Fast wollen wir uns nun an die Geschichten aus der Vergangenheit klammern, die neue Trostlosigkeit gegen die alte tauschen. Uns den vormals inneren Frieden der Zwillinge neu erkämpfen. Trösten mag uns nur der Griff zu einer weiteren Geschichte, dem Mythos des Zwillingspaares Kastor und Pollux, die auch nach dem Tod Kastors zusammenbleiben durften. Und in diesem erbärmlichen Versuch begreifen wir einen Satz des Romans wie ein Programm. Es wäre möglich, "dass wirkliche Reisen nur in der Vorstellung existierten".

Bruce Chatwin, 1940 in Sheffield geboren, 1989 in Nizza verstorben, wurde durch seine Reisebeschreibungen "In Patagonien" und "Traumpfade" weltberühmt. "Auf dem Schwarzen Berg" gewann 1982 den Whitbread Preis und ist mittlerweile auch verfilmt worden. Dieser Roman wird Chatwins Ruf als faszinierender Reiseschriftsteller und unerschöpflicher Geschichtenerzähler mehr als gerecht.

Titelbild

Bruce Chatwin: Auf dem schwarzen Berg. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna Kamp.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
328 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446201289

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