Der Rufer in der Wüste

Ein Sammelband macht sich um Johann Heinrich Merck verdient

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Briefe schreiben und Briefe bekommen bedeutete Johann Heinrich Merck die Gewissheit seiner geistigen Existenz. Als Kriegsrat am Hof von Hessen-Darmstadt mit Ausnahme einiger Dienstreisen zeitlebens an diesen "verwünschten Sandflek, wo nie was gescheutes keimen kann und wird", gebunden, ist ihm der postalische Kontakt zu Wissenschaft und Kunst in halb Europa umso mehr eine Herzensangelegenheit. Einen Brief von Sophie La Roche trug er wohl tagelang mit sich herum: "Er begleitete mich auf meinen einsamen Spaziergängen; ich zog ihn nie ohne Rührung aus der Tasche, und steckte ihn nie ohne das vollste Herz wieder ein." Seine "Schreibereyen" waren ihm das Surrogat, das "Freunde macht, die man ohnedies nicht entdeckt hätte."

Der Studienband zu seinem Werk verdankt sein Entstehen einem Kolloquium, zu dem sich vergangenes Jahr die Gemeinde der Merck-Forscherinnen und Merck-Forscher in Darmstadt zusammenfand. Den Anlass zur fortlaufenden Beschäftigung mit der Person und dem Wirken Johann Heinrich Mercks (1741-1791) liefert die seit vier Jahren bestehende Forschungsstelle Merck, die eben dort, an der ehemaligen Wirkungsstätte des wissenschaftlichen und publizistischen Tausendsassas, eine kritische Edition des Merck'schen Briefwechsels besorgt.

Zu den Freunden zählte auch Goethe; für lange Zeit der einzige Umstand, der Merck einen bescheidenen Platz zumindest in der Literaturgeschichte sicherte. Doch hat es die Forschung der letzten Jahre verstanden, eine "eigenständige Bedeutung" Mercks im Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts auszumachen. Diese zu unterstreichen, werden der Behandlung seiner Korrespondenz einige Aufsätze zur Seite gestellt, die den Facettenreichtum im Schaffen des etwas kauzigen Multitalents illustrieren sollen. So wird Merck als Lyriker präsentiert, als Verfasser von Fabeln und Gedichten, aber auch als Literaturkritiker, der mit seiner abschätzigen Meinung über die Mehrheit der schreibenden Zeitgenossen nicht hinter dem Berg hält: "Die Dichterey verhält sich ohngefähr wie der Wein. Die meiste Nachfrage darnach ist immer da, wo er nicht mehr wächst." Der aber auch bitter klagen kann, selbst als Schriftsteller "verkannt worden" zu sein.

Neben der privaten Dimension des Gedankenaustausches per Brief pflegte Merck sich in den Zeitschriften der Zeit "öffentlich" zu äußern und zu diskutieren; mal unter seinem Namen, mal anonym. So trug er zu dem von Wieland gegründeten "Teutschen Merkur" nachweislich, nach dem Gründer selbst, die meisten Seiten bei, vor allem Ende der 1770er, Anfang der 1780er Jahre, und zwar zu allen erdenklichen Themen. Merck schrieb über Literatur genauso wie über Pädagogik, Musik oder Naturwissenschaften, tat sich aber auch als fleißiger Rezensent hervor. Das bewog auch den Jugendfreund Goethe, ihm postum "einen gewissen dilettantischen Productionstrieb" zu unterstellen.

Die direkte postalische Kommunikation hat für den Einsamen in Darmstadt mehrere Funktionen: Sie besorgt wissenschaftlichen Austausch, persönliche Kontaktpflege, und kann ganz praktisch der Bewältigung von Lebenskrisen dienen, so etwa, als Merck sich nach dem Tod der Landgräfin und einem Fehltritt seiner eigenen Frau ernsthaft bemüht, Darmstadt zu verlassen, und in einem Schreiben an Nicolai all seine geistigen Qualifikationen auflistet - ganz im Stil einer Bewerbung. Er funktionalisiert also seinen Briefwechsel, was nicht Geringschätzung der persönlichen Dimension desselben bedeutet, sondern Ausdruck der gewaltigen Bedeutung der Korrespondenz als Ausweis und ständig erneuerte Legitimation seiner Zugehörigkeit zu einer "internationalen Republik der Gelehrten und Literaten", ganz in humanistischem Sinne. An den Beispielen des Briefwechsels mit Wieland und dem Paläontologen Petrus Camper wird dies illustriert.

Der Band schließt mit einem Werkstattbericht und dem Abdruck von zwölf Beispielen aus der Korrespondenz Mercks. Fünf Briefe daraus sind hier zum ersten Mal gedruckt, ebenso wie vier Zeichnungen von der Hand Mercks, mit denen der Band illustriert ist. Der Haupttitel erweist sich in der Hinsicht als irreführend, als dass ein mehrdimensionaler Informationsfluss nur beispielhaft aufgezeigt wird ("Merck im Briefwechsel von Hamann und Herder", sowie die Reflexionen Gerhard Sauders über briefliche Kommunikation im 18. Jahrhundert). Bei wem jedoch der Untertitel Interesse zu wecken vermag, der ist mit dem Buch gut bedient.

Titelbild

Ulrike Leuschner / Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Netzwerk der Aufklärung. Neue Studien zu Johann Heinrich Merck.
De Gruyter, Berlin 2003.
243 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3110175711

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