Unter dem Glassturz

Mit Mihail Sebastians Roman "Der Unfall” ist ein rumänischer Klassiker zu entdecken

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die rumänische Zwischenkriegszeit erfüllt in der rumänischen Literaturgeschichtsschreibung eine ähnliche Funktion wie in der deutschen die Rede von den "zwanziger Jahren". Sie bietet eine erstaunliche Fülle von Kontroversen, Talenten, mythischen Figuren, Vergessenen, Klassikern, usw. vor dem Hintergrund einer zunehmend aus den Fugen geratenden gesellschaftlichen Entwicklung. Ebenso wie in Deutschland ist diese Zeit für das südosteuropäische Königreich auch die einer Modernisierung, in der sich die Tendenzen der post-historistischen und antitraditionellen Ästhetik insoweit durchsetzen, dass sie neben den herkömmlichen und konservativen Ansätzen existieren konnten. So gab es seit den zwanziger Jahren eine im europäischen Kontext wahrgenommene Avantgarde, die sich dem Konstruktivismus und dem Surrealismus nahe fühlte. Jüngere Autoren mit einer in der rumänischen Intelligenz lange herrschenden Ausrichtung an der französischen Literatur nahmen teil am gesamteuropäischen ästhetischen Diskurs der Moderne. Wenn heute in die Wahrnehmung des Westens nur die damaligen Verstrickungen von Intellektuellen wie Emile Cioran, Eugen Ionesco oder Mircea Eliade in die protofaschistischen Zirkel dringen, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass der weitaus grösste Teil dessen, was den europäischen Kommunikationsraum in jener Zeit ausmachte, vergessen worden ist.

Als ein Paradefall für diese Amnesie (die ja selbst ein historisches Symptom darstellt) könnte der Dramatiker und Prosaist Mihail Sebastian gelten. Er war mit den genannten Jungstars des Bukarester Literatur- und Universitätsbetriebes eng befreundet und musste selbst erleben, mit welchen antisemitischen Ausgrenzungsmechanismen eine in der fortgeschrittenen ökonomischen Krise bereits höchst gefährdete Gesellschaft auf die Beseitigung ihrer Grundlagen hinarbeitete.

Sebastian wurde als Iosif Hechter in Braila an der Donau 1907 geboren und machte sich in Bukarest als Theaterautor schon in jungen Jahren einen Namen. Er studierte wie Eliade und Cioran bei dem Philosophen Nae Ionescu, der in einem Vorwort zu Sebastians Buch "Wie ich ein Hooligan wurde" seinem Antisemitismus freien Lauf liess. Der erfolgreiche Autor spiegelte die innere Entfremdung während der wachsenden Faschisierung der rumänischen Gesellschaft und den Ausbruch des Krieges in einem Tagebuch, das seit seiner Entdeckung und Publikation Anfang der 1990er Jahren zu Recht als ein Klassiker der Gattung gilt.

Die gleiche Sensibilität der Beobachtung äusserer Vorgänge aber vor allem auch innerer Ereignisse zeichnet seinen 1939 erstmals erschienenen Roman aus, der nun in einer neuen Übersetzung in Deutschland vorliegt. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte und um eine Auseinandersetzung des Helden Paul mit seiner Vergangenheit. Aber die Handlung beginnt mit dem titelgebenden Ereignis und führt zur Bekanntschaft mit Nora, einer in ihrer Einsamkeit eingesponnenen Lehrerin. Einsam und allein sind alle Gestalten dieses Romans, und diese Befindlichkeit hat Anteil am Eindruck einer ungewöhnlichen Aktualität des Romans. Diese Bukarester Grossstadtfiguren haben allesamt ein eigentliches Zuhause nie besessen oder längst aufgegeben. Ohne dass der Grund dieser Entfremdung genauer erkundet wird, ruft er eine eigenartige Atmosphäre wie unter einem Glassturz hervor.

Paul ist - wie Sebastian selbst - ein sich als Rechtsanwalt betätigender Intellektueller innerhalb einer elitären hauptstädtischen Künstlerschicht, der die entsprechenden Bars, Clubs und Galerien frequentiert. Nora - aus gutbürgerlichen Hause - hat sich mit ihrem nicht ungeliebten, aber wenig aussichtsreichen Beruf abgefunden. Ihre Abende verbringt sie meist allein. Mit seinem lakonischen Stil trifft Sebastian den Ton einer "coolen" Generation ohne jede Illusionen. Der Erzähler schaut allerdings immer wieder hinter die Masken dieses Verhaltens und in treffenden Metaphern und Vergleichen deutet er die Befindlichkeiten des sich nach aussen abschottenden Personals an.

Es ist daher nicht ganz verfehlt, die psychologische Zeichnungskunst dieses Romans hervorzuheben. Sie wird ergänzt durch ein sicheres Gespür des Autors für die Anlage der Personen, aber auch der Handlung. Diese führt aus der Stadt hinaus nach Belgien und in die winterlichen Karpaten. In einer furiosen Stilübung gibt Sebastian die Beschreibung einer Skiabfahrt, wie sie in der Literatur selten zu finden sein wird. (Was ihm allerdings auch die sehr verkürzende Nominierung als "Sportschriftsteller" eingebracht hat!)

Interessant ist diese Verlagerung der Handlung nicht nur für die Lösung der sich aufbauenden emotionalen Spannungen, sondern auch, weil sie zur Begegnung mit der deutschen Minderheit der Siebenbürger "Sachsen" in Brasov (Kronstadt) führt. Ein grosser Teil des Romans spielt im Gebirgshaus eines jungen Nachkommens einer alten Kronstädter Familie. Dessen Konfrontation mit seiner Herkunft wirft ein besonderes Licht auf die Beziehung der beiden Hauptfiguren des Romans. Wiewohl die eigentliche narrative Funktion dieser langen Abschweifung in ein anderes Milieu vordergründig beliebig erscheint, erhöht sie doch die Intensität des 'verfremdenden' Blicks auf die Geschehnisse und vertieft den Reichtum der Darstellung der psychologischen Konflikte, für die Sebastian ein Füllhorn an treffenden sprachlichen Bildern bereithält.

Es lässt sich vermuten, dass damit aber auch ein Hinweis auf die politische Entwicklung der 1930er Jahre gegeben wird. Denn was sich in der winterlichen Welt abspielt, kann bereits in der tödlichen Gleichgültigkeit präfiguriert gelesen werden, die der Held auf einer kurzen Durchreise in Deutschland wahrnahm. In wenigen Sätzen gelingt dem in seinen journalistischen Arbeiten sich als hellwacher Zeitgenosse zeigende Sebastian die Skizze einer wie im Spinnennetz gefangenen apathischen Gesellschaft unter dem Eindruck der wachsenden Gefahr.

So gehen Handlung und psychologische Zeichnung in diesem Ausnahmefall von Liebesroman mit der eher indirekten Evokation einer historischen Entwicklung eine äußerst geglückte Kombination ein, deren moderne Klassizität vom Talent des wiederentdeckten Autors zeugt. Der Roman macht auf den weiteren zeitgenössischen Kontext in Rumänien und vor allem auf die Tagebücher neugierig, deren Übersetzung sehr zu begrüßen wäre.

Titelbild

Sebastian Mihail: Der Unfall. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Georg Aescht.
Claassen Verlag, München 2003.
302 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3546003268

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