Komm an die Sonne

Irina Denežkinas Debüt über das junge Russland

Von Timm FaustRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timm Faust

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In regelmäßigen Abständen tauchen sie auf: sensationell junge Autoren, die auf untrüglich und absolut neuartige Weise das Lebensgefühl ihrer Generation auszudrücken wissen. Die Aufregung über den 17-jährigen Nick McDonell und seinen distanziert-brillanten Abgesang auf den New Yorker Upper-Class-Nachwuchs ist noch nicht verklungen, da erscheint mit Irina Denežkinas (22) Debüt "Komm" die nächste "literarische Entdeckung", die für uns in zehn "schnellen Geschichten" die mystische Welt der jungen Leute zelebriert.

Notwendigerweise geht es in dieser Welt um Liebe und Sex, um Drogen und Musik, um Gewalt und Tod; neu ist allerdings, dass die Geschichten, passend zum Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse, im entfesselten Russland spielen. Doch keine Sorge: Auch hier erleben Teens und Twens in bekannter Dramatik die Tragödien von erster Liebe, Gefühlswirrwarr Ferienlager und Alkoholexzess.

So muss sich Lena in der titelgebenden Geschichte gleich zwischen drei Männern entscheiden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, sieht Lena doch aus wie ein Fotomodell und wird ständig von Typen angebaggert. Da wäre zum einen Ljapa, der fantastisch Schlagzeug spielen kann und zum Knuddeln süß ist. Sie hat ihn übers Internet kennengelernt und virtuell geheiratet, aber nun ist er seltsam zurückhaltend, außer in seinen Liedtexten, die immer mal wieder den Text bereichern: "Sie rennt barfuss [...] den Weg aus dem Paradies [...] Doch Schotter verletzt ihre Füsse [...] und der Weg endet nie!" Das ist poetisch, irgendwie Kunst [...] und unendlich abgedroschen und nichtssagend. Ebenso abgedroschen wie die Leere in den Augen ihres zweiten Kandidaten, Denja, der - natürlich - in Tschetschenien im Krieg war und gesehen hat, wie alle seine Freunde grausam wegstarben. Trotzdem kann er sich nichts Schöneres vorstellen als zu "Sterben - aber für etwas Großes ohne diesen Dreck, für etwas Ganzes [...] Ich will in den Krieg. Damit ich umkomme. Aber richtig." und der es gerne sehen würde, wenn die Muttersöhnchen (Zivilisten) alle "gefickt würden und Ende". Um die Reihe komplett zu machen, gibt es noch den coolen Rapper Niger mit Goldkettchen und allem, was dazugehört, der auf all die Typen scheißt, die Baggie-Hosen nur deshalb anziehen, weil es modern ist und nicht, weil es Rap ist und der erst einmal Lenas Favorit wird. Niger und Denja hat Lena übrigens kennen gelernt, als beide mit zwanzig weiteren auf der Straße einen "Proll" so zurichteten, dass das Blut nur so in Strömen floss. Lena fand das mies, aber nicht so mies, dass sie dem Rapper, der gerade seine blutige Kette wegsteckte, nicht ihre Telefonnummer gegeben hätte.

Meist jedoch begnügen sich alle mit Saufgelagen, die bei jeder Gelegenheit stattfinden. Man trifft sich, trinkt, knutscht mit irgendwem rum und hat große Gefühle, die dann schnell vergessen sind. Alles ist "irgendwie", die Dialoge sind kurz und bedeutungsleer. Man glaubt sich in eine Milieustudie frühpubertierender Jugendlicher versetzt, und liest dann überrascht, dass Lena Philologie an der Uni studiert, auch wenn sie dort für sie selbst kaum verständlich "bums" aufgenommen wurde, dass die meisten deutlich über zwanzig sein sollen.

Das wirklich Überraschende an diesen Geschichten ist, dass sie bei aller Flachheit der Sprache und der Charaktere, die glücklich von "Schwänzen wie Baseballschlägern" schwärmen, ernst gemeint sind. Die Protagonistin wird kaum von unnötigen Motiven oder gar Reflexionen geplagt und stolpert von Gefühlen und Verwirrtheit von Party zu Kaffeklatsch. Nur manchmal teilt sie dem Leser salbungsvoll konzentrierte Weisheiten wie "Das Leben ist wunderbar und voller Überraschungen" mit. Sorge Dich nicht, lebe! möchte man da wissend lächelnd antworten oder auch: Geh, wohin Dein Herz Dich trägt! Dann wiederum erfahren wir von ihr über ihren Freund aus der Uni, den sie verließ, weil sie "Bier und Sex in unbegrenzten Mengen" wollte und er mit der Lieferung nicht nachkam. Vielmehr begeistert sie die "Gaunerromantik" ihres nächsten Geliebten, die sie als seine eigene Philosophie bezeichnet: "Die Siffköpfe muss man plattmachen!"

Einer der Höhepunkte der Geschichte um Lena ist ein Konzert ihres Ljapa, bei dem die ganze Menge zum titelgebenden Song tanzt und singt: "Komm!...Komm!...Komm an die Sonne!" Alle verströmen ganz doll Energie und sind wie eins, und das ist dann so schön, dass Lena vor Glück "fast wahnsinnig" wird. So schön ist das, dass der Autorin glatt die Worte fehlen und sie nur noch ein bewegendes "A-a-a-ah!!!" mit aber auch wirklich nötigen drei Ausrufungszeichen fertig bringt.

Spätestens jetzt ist klar: Das ist die Art junger, cooler Leute, von denen man immer gefürchtet hat (aber bis heute nicht glauben konnte), dass es sie wirklich gibt, und ihre Leben sind genauso belanglos und öde wie die Sprache, die sie beschreibt. Als "ungestüm, zärtlich und direkt" möchte der Verlag dies gern sehen, passender wäre allerdings unbeholfen, inhaltsleer und altbekannt. Wenn am Ende Ljapa es schließlich endlich fertig bringt, seine wahren, wenig überraschenden Gefühle Lena zu offenbaren und alles auf einen glücklichen Abschluss zusteuert, denkt diese ebenso überwältigt wie ergriffen: "Meine Fresse" Es bleibt dann auch dem Leser nichts anderes, als bewegt mit einem Wort seine Gefühle über all dies auszudrücken, und das möglichst laut: A-a-a-ah!

Eigentlich ist das schade, denn neben vieler Geschichten ähnlicher Couleur zeigt die Autorin, dass sie durchaus vielseitig sein kann und Talent besitzt: In der grotesken Albtraumgeschichte "Wasja", in der "grüne Würger" genannte Horrorgestalten die lieblose Welt eines kleinen Jungen terrorisieren, gelingt ihr mit überzeichneten Gewaltbildern und satirischen Figuren ein bemerkenswert eigener Ton mit dichter Atmosphäre. Vielleicht wäre Irina Denežkina gut beraten, sich für ihr nächstes Buch mehr mit ihrer Phantasie und weniger mit ihrer Generation zu beschäftigen.

Titelbild

Irina Denezkina: Komm. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Franziska Seppeler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
251 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3100431006

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