In eisigen Höhen

Isabel Allendes zweiter Jugendroman "Im Reich des Goldenen Drachen"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ferienreisen mit Großmutter Kate sind nichts für schwache Nerven. Das musste der sechzehnjährige Alex Cold aus Kalifornien schon im letzten Jahr feststellen, als er mit der raubeinigen New Yorker Reiseschriftstellerin eine abenteuerliche Expedition in die Urwälder des Amazonas unternahm. Als Alex mit der zwölfjährigen Nadia von einem bisher unentdeckten Indianerstamm entführt wurde, geriet die Fahrt in die Fremde zu einer Reise in eine andere Wirklichkeit. Unter ihren Totemnamen 'Aguila' und 'Jaguar' mussten die beiden das Abenteuer ihres Lebens bestehen.

Wem der erste Teil der Romantrilogie ("Die Stadt der wilden Götter") von Isabel Allende gefallen hat, der kann sich freuen: Auch der zweite Band "Im Reich des Goldenen Drachen" bietet eine fulminante Geschichte, ist absolut fesselnd geschrieben und begeistert mit hinreißenden sprachlichen Bildern und philosophischen Versatzstücken. Allerdings muss man sich warm anziehen, geht es doch nach dem schweißtreibenden Amazonasabenteuer nun in die kalten Berge des Himalaja. Eine faszinierende Welt erwartet die wieder von Kate Gold organisierte Expedition: Der achtzehnjährige Prinz Dil Bahadur wird seit vielen Jahren fernab im Gebirge vom weisen Lama Tensing in alle Künste und Geheimnisse eingewiesen, um zukünftig die Königswürde des weltabgewandten Landes zu übernehmen. Dort ahnt niemand, welche tödlichen Gefahren sich anbahnen, als der "Sammler", ein habgieriger Milliardär und Kunstsammler aus New York, beschließt, den Goldenen Drachen, das wichtigste Heiligtum des kleinen buddhistischen Königreiches, an sich zu bringen. Nicht wegen seines enormen Wertes, sondern weil er ein sehr nützliches Orakel sein soll, das ihn endlich zum allerreichsten Mann der Welt machen könnte, erweckt die Statue das Interesse des Sammlers. Nur der rechtmäßige König kennt jedoch den mit raffinierten Fallen gespickten Weg zu der goldenen Drachenstatue und ihren Prophezeiungen, doch der "Sammler" hat den "Spezialisten", Kopf einer geheimen Organisation, die für Geld alles besorgt, beauftragt, die Statue zu entwenden.

Es ist purer Zufall, dass sich zur selben Zeit Alex und Nadia in dem kleinen Land aufhalten. Sie begleiten Alex' Großmutter auf eine ihrer Expeditionen. Auf ihrem Flug nach Asien begegnen ihnen der unheimliche Tex, den angeblich das billige Rauschgift in das Land lockt, und die attraktive Gartenbauarchitektin Judit. Bei der Zwischenlandung in Indien entdecken Alex und Nadia, dass Tex sich mit düsteren Gestalten trifft, Kriegern der blutrünstigen "Skorpion"-Sekte. Kaum im Verbotenen Reich angekommen, bricht auch schon das Unglück über das so friedliebende Land herein. Erst werden Nadia und einige einheimische Mädchen von Skorpion-Kriegern entführt, was alle Bewohner in Aufruhr versetzt. Dann werden der Goldene Drachen, der König sowie die von ihm umworbene Judit entführt und in die Berge des Himalaja verschleppt. Derweil kann Nadia fliehen, stürzt jedoch in eine Schlucht. Während Alex sie noch sucht, wird sie von Tensing und Dil Bahadur gerettet, und das hochdramatische Geschehen mündet in ein grandioses Finale, bei dem eine Horde Furcht einflößender Yetis, die der Lama und sein Zögling gegen Anfang der Geschichte von einer heimtückischen Krankheit geheilt haben, eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die erneute Aktivierung der Totemnamen von Alex und Nadia.

Isabel Allendes zweiter Jugendroman, aus dem Spanischen von Svenja Becker erneut kongenial übersetzt, führt in eisige Höhen und ins geheimnisvolle Land der Yetis, in tief im Gebirge verborgene Höhlen und in eine sagenumwobene Klosterfestung. Wie schon in "Die Stadt der wilden Götter" schildert Allende spannend, engagiert und mit ihrem kräftigen Sinn für Humor den Zusammenprall grundverschiedener Kulturen und erzählt, wie sich hinter den engen Grenzen des Gewohnten eine ganz neue Welt auftut. Der Roman begeistert mit hinreißenden Schilderungen der fremdartigen Landschaft und mancher magisch-mystischer Vorgänge. Die Fortsetzung der Abenteuer von Kate, Alex und Nadja ist jedoch weit mehr als eine einfache Fortsetzung, es ist eine Fortschreibung. Ohne die Erfahrungen, die die Protagonisten in den Urwäldern des Amazonas miteinander und vor allem mit sich selbst gemacht haben, ist diese Geschichte um den Goldenen Drachen nicht zu verstehen. Witz und Komik entstehen nur aus dem Wissen um die Erlebnisse des ersten Bandes. Der Aufbau der Geschichte ist ebenso wie der des ersten Bandes logisch konstruiert, obwohl den jungen Lesern immerhin abverlangt wird, über weite Strecken des Buches zwei Handlungen parallel zu rezipieren. Da beide für sich gelesen jedoch voller Komik und Weisheit stecken, ist diese Hürde gut zu nehmen. Mag die sich ergebende Kriminalgeschichte für den erwachsenen Leser auch nach kurzer Zeit durchschaubar sein, für Jugendliche ist sie gut versteckt und spannend zu lesen.

Der Leser wird hineingezogen in einen spannenden Wirbel von Ereignissen, die zwar fiktiv sind, jedoch als Möglichkeit sehr realistisch erscheinen. Die durch eigene Reisen in diese Länder erworbenen Kenntnisse setzt die Autorin so gekonnt ein, dass ihre Charaktere im Roman sehr glaubhaft wirken. Am deutlichsten wird das in den oft wunderschön tiefsinnigen Dialogen zwischen dem noch jungen, ungestümen Schüler Dil Bahadur und seinem sympathisch väterlichen Lehrer Tensing. Für Jugendliche und Erwachsene bietet Allende wieder die Möglichkeit auf eine Gedankenreise zu gehen, die nicht ohne Konflikte abläuft, die aber mit ihrem immanenten Gegensatz von westlicher Welt und geschilderter Phantasiewelt unendlich viel Nachdenkenswertes bereithält. Nicht alle Errungenschaften der Zivilisation werden in Frage gestellt, wohl aber ihre Werte. Auch dieser Roman von Isabel Allende ist absolut lesenswert, bietet er doch eine gelungene Mischung aus spannender Unterhaltung und dem Portrait einer von Globalisierung und Habgier bedrohten Kultur in der Region des Himalajagebirges.

Titelbild

Isabel Allende: Im Reich der goldenen Drachen.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
300 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3446203370

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