Heimlichtuerin
Georges Simenons Roman "Die Marie vom Hafen"
Von Ann-Katrin Kutzner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Die menschliche Wahrheit" zu finden, in der "Wiedervereinigung der geistigen und sinnlichen Sphäre", das ist das selbsternannte Ziel des 1903 geborenen französischen Schriftstellers Georges Simenon, dessen Lebenswerk rund 200 Romane umfasst.
Der Roman "Die Marie vom Hafen" ist anlässlich des 100.Geburtstages von Simenon in diesem Jahr neu aufgelegt worden. In seinem Vorwort wertet der 1989 in Lausanne verstorbene Autor seinen Roman als eine Annäherung hin zu diesem, oben genannten Ziel, sich auf die Suche nach "der menschlichen Wahrheit" zu begeben. Und es stimmt. Dem Autor gelingt es in seinem Roman "Die Marie vom Hafen" auf erstaunliche Art und Weise, eine Liebe zwischen zwei Figuren zu entwickeln, die auf purer Menschlichkeit beruht und dadurch so faszinierend, wahr und wahrhaftig erscheint. Bis es zu dem offenen Geständnis der gegenseitigen Liebe dieser beiden, so grund verschiedenen Figuren, kommt, ist der Roman bereits fast zu Ende. Die Entwicklung hin zu dem Erkennen der Liebe, die Entwicklung hin zur gegenseitigen Annäherung, der gleichzeitig auch notwendigen Entfernung voneinander, die Entwicklung hin zum Eingeständnis der Liebe, das ist es, was im Mittelpunkt dieser Geschichte steht.
Marie, die siebzehn Jahre alte Protagonistin, zieht den Leser in ihren Bann. "Heimlichtuerin", so wird sie von den Bewohnern von Port-en-Bessin, eines Fischerortes an der französischen Atlantikküste, genannt. ("Man hätte nicht zu sagen gewusst, was in ihr vorging.") Und tatsächlich ist sie eine geheimnisvolle Figur, die kennenzulernen es, auch beim Lesen, ein wenig Geduld braucht. Von den ersten Seiten an ist klar, dass Marie einen Verehrer hat. Es ist der fünfunddreißigjährige "Fremde": Chatelard.
Der Beerdigung von Jules, dem Vater Maries, widmet der Roman seine ersten Seiten. Es wird so ein Exposé geschaffen, in dem die Familienmitglieder der Le Flems sowie die Bewohner des Dorfes Port-en-Bessin eingeführt werden. Richtig in Fluss zu kommen scheint die Handlung erst mit der Versteigerung des Fischkutters namens "Jeanne". Der Besitzer des Kutters kann nicht mehr für sein Schiff aufkommen, und so fällt es in die Hände des aufdringlichen, gemeinhin unbeliebten Chatelards.
Odile, die Schwester Maries, ist Chatelards Geliebte, was von Anfang an als ein großer Irrtum dargestellt wird, da sie "überhaupt nicht füreinander geschaffen" sind. Odile ist tatsächlich so naiv, dass sie nicht merkt, dass es der Freund auf ihre Schwester abgesehen hat. Oder sie hat gar keine Lust, es zur Kenntnis zu nehmen: Sie selbst ist der Gelegenheit eines erotischen Techtelmechtels durchaus offen gegenüber eingestellt.
So fährt Chatelard täglich von seinem Wohnsitz Cherbourg nach Port-en-Bessin, wegen "Jeanne" oder vielmehr wegen Marie: "Es gab Augenblicke, in denen er gute Lust hatte, alles über den Haufen zu werfen, die "Jeanne" nach Cherbourg zu holen, um die Scherereien mit diesem Teufelsbraten von Mädchen los zu sein.", so berichtet der Erzähler; doch diesen selbstsicheren, intelligenten, gewitzten "Teufelsbraten" gilt es für Chatelard zu erobern, auch wenn es nicht einfach ist, und er sich obendrein noch mit der Konkurrenz eines wesentlich jüngeren, ebenfalls in die Marie Verliebten, namens Marcel, auseinandersetzen muss. Dass ausgerechnet dieser Marcel zum Techtelmechtel von Odile wird, kann die Schwestern, als es herauskommt, nicht beeindrucken. Beide Frauen verbindet eine starke schwesterliche Bande, doch sind sie sehr verschieden, und jede geht im Endeffekt ihren ganz persönlichen Weg.
Chatelard "war fünfunddreißig Jahre alt! Ein gestandener Mann und eigentlich draufgängerisch! Er hielt sich für stärker und schlauer als alle anderen. Er besaß ein großes Café in Cherbourg, ein Kino, ein Schiff, ein Auto, das vor der Tür wartete."
Im Gegenzug zu den eher grobschlächtigen, aber auch fast humorvoll anrührenden Gesten und Gebärden dieser, sehr emotional gesteuerten Figur, steht die dichte, leise atmosphärische Sprache des Autors, der seinen allwissenden Erzähler sich mal in die eine, mal in die andere Figur hineinversetzen lässt.
Die Darstellungen und Beschreibungen der Natur schaffen die Harmonie und schaffen die zarten Zwischentöne, die diesen Roman "Die Marie vom Hafen" ausmachen. Es ist die Plastizität der Darstellung, die die Welt der Figuren miterfahrbar und greifbar werden lässt: Zunächst war "das Leben so eintönig wie der winterliche Himmel", dann "hüllten" die "Schwärze und das Tosen des Meeres" die Liebenden ein. Es ist ein "Anflug von Schwermut", der Marie im Roman überkommt, der aber auch den Leser bei der Lektüre ergreift, wenn er mit den Figuren mitlebt.
Die menschliche Wahrheit, der sich Simenon verpflichtet fühlt, beinhaltet keine perfekte, harmonische Liebe, sondern eine verletzbare. Am Ende eines nicht einfachen, aber zielgerichteten Weges ist Marie "in ihr übergroßes Glück versunken. Jede Minute kostete sie aus, selbst Chatelards Ungeduld, seinen aufsteigenden Zorn." Simenons Ziel der Vereinigung der seelischen und geistigen Sphäre bedeutet in dieser Erzählung einen Menschen in seiner Ganzheitlichkeit zu lieben. Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um ein unkorrigiertes Arbeitsexemplar: An den Übersetzungen aus dem Französischen muss ganz offensichtlich noch gefeilt werden.
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