Nicht alles, was der Fall ist

Elisabeth Vera Rathenböcks "Herbarium des Präsens" ist ein kleines Glossar der Gegenwart

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von A wie "Anatomie des Präsens" bis Z wie "Zikaden" spannt sich der Bogen aus Stichwörtern, die, von der Autorin "aus dem Fluss der Zeit gegriffen", ein literarisiertes Abbild unserer Epoche ergeben sollen, wobei es dem Publikum überlassen bleibt, ob es die Einträge nachdenklich, erheitert, irritiert oder dankbar aufnimmt, um nur einige mögliche Lesarten zu nennen. Rathenböcks Streifzug durch die Jetztzeit, dem der Titel genau genommen nicht entspricht (handelt es sich doch beim Präsens um eine grammatische Kategorie und nicht eine historische), versteht sich oberflächlich betrachtet zunächst als Glossar und gibt sich dabei den Anschein von Wissenschaftlichkeit, indem Definitionen geliefert und Gewährsleute in Form von Zitaten aufgerufen werden. Bald schleicht sich jedoch bei der Lektüre der Verdacht ein, dass es sich bei den diversen Einträgen nicht immer um ernst zu nehmende Lexikonbeiträge handelt. Vielmehr scheint es der Autorin um einen ironischen Umgang, ja eine Dekonstruktion des Wissens zu gehen. Nicht mehr zählen in ihrer Perspektive nun Informationen, die Faktizität, weil Belegbarkeit verbürgen, sondern sie philosophiert geistreich über die Dehnbarkeit des Wissens als Schlüsselbegriff der so genannten Informationsgesellschaft und suggeriert die Frage, ob denn fiktionale Inhalte nicht gleichwertig neben Sachwissen zu handeln seien. Die Welt neu zu schaffen, von jeher ein Privileg des Künstlers, impliziert freilich die Möglichkeit, sie neu zu ordnen. Rathenböck nimmt diese Herausforderung an und steckt kühn die Grenzen einer Wahrnehmung ab, die einzig auf innerer Notwendigkeit beruht.

Wie wenig das "Herbarium" mit einem herkömmlichen Konversationslexikon gemein hat, zeigt sich auch in den Definitionen, die spielerisch ins Anekdotische abgleiten, anstatt sich mit trockenen Ausführungen aufzuhalten. Virtuos schlägt ein "Sonett" in eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen um, von denen eine in Tibet den Tod findet und die andere zu Hause ihren Nachlass. Aber nicht nur Tiefgründiges, auch ein Witz, der das Thema "Globalisierung" entschärft, wird zum Besten gegeben und unterstreicht einmal mehr, dass wir es hier mit keinem gewöhnlichen Nachschlagewerk zu tun haben.

Die stilistische wie inhaltliche Spannweite dieser kleinen Enzyklopädie ist erstaunlich und verleiht ihr bisweilen eine ungewöhnliche Dichte, die sich nicht damit begnügt, den Intellekt zu treffen. Vielmehr spielt die sinnliche Komponente eine nicht unwesentliche Rolle in Rathenböcks Text. So ist etwa die Rede von "Ekstase", "Fest", "Frühstück", "Geschmack", "Orgasmus" oder "Suppe", einem Stichwort, dem die Autorin kommentarlos ein Rezept mit aphrodisierender Wirkung nachstellt, um schließlich augenzwinkernd zu resümieren: "Die S. sollte zwei, drei Stunden vor dem Beischlaf gegessen werden. Wenn sich eine Stunde nach dem Essen der S. Hunger einstellt, ist das ein gutes Zeichen."

Wer in dem Gemenge heterogener Begriffe ein Leitmotiv zu erkennen sucht, tut gut daran, sich den Begriff des "Präsentismus" zu Gemüte zu führen. Wie das "Herbarium" ausführt, wurde dieser von dem Dadaisten Raoul Hausmann geprägt und bezeichnet die unbedingte Hingabe an das Heute. Von dieser für die europäische Avantgarde bezeichnenden Haltung schließt Rathenböck auf das Lebensgefühl unserer Gesellschaft und nimmt ihre Schlagwörter ins Visier. "Einsamkeit", "Fernsehgerät", "Ortswechsel", "Spaßgesellschaft" oder "Verjüngungskur", um nur einige zu nennen, verdeutlichen Glanz und Elend einer Epoche, die letztlich vom ungestillten Hunger nach jenem Lächeln getrieben ist, das der böhmische Fotograf und Weltreisende Sebastian Horn (siehe "Museum") während der Besteigung eines Andengipfels entdeckt. Als er sich über den Leichnam eines im Eis konservierten Inkamädchens beugt, meint er, in der sanften Rundung seiner Lippen ein Zeichen dauerhafter Zuneigung zu erkennen. Er fotografiert die "Eisprinzessin" und kehrt in die Heimat zurück. Dort verkauft er sämtliche Bilder mit Ausnahme dieses einen und erwirbt ein Haus, in dem er einen Andachtsraum für das Porträt der Toten einrichtet. Auf die Frage eines Freundes, wo denn Exponante am besten aufzubewahren seien, antwortet er schlicht: "Gegenüber der Vernichtung durch die Zeit sind wir im Grunde machtlos. Das beste Museum aber ist ein Gletscher. Das Eis konserviert sogar den zitternden Atem unseres Lächelns."

Darf man diese Parabel als Demontage des Präsentismus verstehen? Stemmen wir uns letztlich machtlos gegen den Fluss der Zeit, den Rathenböck an den Begriffen "Gehen", "Haltestelle", "Laufen", "Passage" bzw. "Ortswechsel" festmacht? Der Lebens- und Todesangst hält die Literatin die Literatur entgegen. Sie ist die Replik auf den bedingungslosen Glauben an das hinc et nunc, der den Raum unserer Gegenwart mit medialem Rauschen erfüllt. Mit dem "Herbarium des Präsens" entwirft die Verfasserin eine Metaphysik der Vergänglichkeit, die ob aller Tragik des Sujets der Hoffnung nicht vergisst: eine durchaus heroische Geste, dem Gewicht dieses Bandes angemessen.

Titelbild

Elisabeth Vera Rathenböck: Herbarium des Präsens.
Edition Innsalz, Aspach 2003.
79 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-10: 3901535810

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