Über das Sekundäre aus primärer Sicht
Nicht alle Neuerscheinungen über Günter Grass bleiben respektvoll und höflich
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Dass Günter Grass viel Aufsehens in Deutschland mit seinen Büchern sowie mit seinen Reden und Auftritten in der Öffentlichkeit nicht erst seit dem Erscheinen von "Ein weites Feld" gemacht hat, ist sehr gut bekannt. Aber dass seine Aufenthalte in Indien, vor allem der Besuch als Gast der Regierung 1975, der in eine Episode des "Butts" (1977) einging, und die längere Periode, beschrieben in "Zunge zeigen" (1988), die er ab September 1986 in Calcutta verbrachte, in Indien selbst viel besprochen wurden, dürfte sehr wenigen bekannt gewesen sein. Nun ist Grass ein internationaler Autor, Viking ein internationaler Verlag mit einer Niederlassung in Delhi, Englisch die internationale Sprache, und Germanistik gerade noch eine international betriebene Disziplin. So kam Martin Kämpchens aufschlussreicher Band zustande, der einige Zeit brauchte, bis er im Westen wahrgenommen wurde. "My Broken Love" beinhaltet zahlreiche Gespräche zwischen Grass und indischen Publizisten, Augenzeugenberichte und kurze Erinnerungen an Treffen mit dem großen Schriftsteller, der sich laut Herausgeber, in seinem Werk mehr mit Indien auseinandergesetzt habe und in seinem Leben mehr Zeit auf dem Halbkontinent verbracht habe, als irgendein anderer Autor mit Weltruf seit E. M. Forster. Die indischen Beiträge (es gibt zur Information indischer Leser auch deutsche Rezensionen von Grass' Büchern wie auch Aufsätze von ihm selbst zum Thema) zollen ihm Respekt, vielleicht manchmal etwas zuviel, und bleiben höflich. Einige dürfen sich durch seine Zuwendung geschmeichelt fühlen aber sie sind sich nicht immer sicher, was er bei ihnen sucht oder zu suchen hat. Ein Problem; und sie scheinen sich dessen nicht bewusst zu sein, dass Indien als Thema für Grass auf keinen Fall literarisch ergiebig war. "Zunge zeigen" hat sehr guten Anspruch darauf, das schwächste von seinen Büchern genannt zu werden. Erst als die Mauer im Jahr nach seinem Erscheinen fiel, hatte Grass wieder ein Thema. Die etwas lustigere Episode im "Butt" hätte sich genauso gut in irgendeinem anderen Land der ,dritten Welt' abspielen können und ist keineswegs nur wörtlich zu nehmen. Es ist ein Stück Literatur. Kämpchens Autoren aber messen Grass' Darstellung an ihren eigenen Erinnerungen an die gleichen Veranstaltungen. Das ist höchstens für künftige Biografen des Nobelpreisträgers von Interesse. Michael Jürgs hat im Herbst 2002, als Grass seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feierte, die erste umfangreiche Biografie vorgelegt. Sie wird Volker Neuhaus' erheblich kürzere von 1997 ("Schreiben gegen die verstreichende Zeit", dtv) nicht ersetzen, weil Neuhaus die literarischen Werke kennt wie kein zweiter und das Leben von Grass nur dann berichtenswert findet, wenn unser Verständnis seiner Werke durch Kenntnis seiner Lebensumstände erweitert wird. Jürgs hingegen ist langatmig und berichtet ausführlich über alles; er hat anscheinend mit allen gesprochen und alles gelesen - ich bezweifele nur, dass er persönlich die Bibliografie am Ende seines Buches zusammengestellt hat, geschweige denn die Bücher und Aufsätze, die dort aufgelistet sind, wirklich zur Kenntnis genommen. Eine literarische Biografie ist sein Buch nicht und warum soll es auch eine sein? Trotz Bibliografie ist auch kein wissenschaftliches Buch daraus geworden. Jürgs' Problem ist, dass er alles gleich wichtig findet und sich nicht darauf versteht, sein Material auszuwerten. Er fällt keine Urteile, weiß nicht zu sagen, welche Bücher von Grass besser sind als andere und weshalb sie es sind. Auch bleibt sein Ton über mehr als 400 Seiten der gleiche, und das ist auf Dauer hart für den Leser. Obwohl alle Grass-Kenner Neues bei Jürgs finden werden, ist die Lektüre seines Buches weder intellektuell anregend noch geistvoll unterhaltsam. Einer der sich rühmt, auswerten zu können und Urteile nicht nur zu fällen sondern auch zu begründen, ist der Kritiker Fritz J. Raddatz, der keinen Hehl aus seiner Freundschaft mit dem Autor macht. Eher im Gegenteil und im Gegensatz zu seinem Kollegen und Deutschlands bekanntestem lebenden Kritiker, der Mitte der Neunziger unerbittlich mit ihm verfeindet war. Raddatz begleitet Grass' Karriere erst ab dem "Butt" und hat seitdem jedes Buch mit Ausnahme von "Ein weites Feld" besprochen, will sagen, mit Lob gekrönt, sowie Gespräche mit Grass geführt, die jetzt alle zwischen zwei Buchdeckeln gesammelt sind. Dieser Band dokumentiert ,den Fall Grass-Raddatz' und erhellt, wie das deutsche Feuilleton mit seinen Großautoren umgeht. Auf Raddatz ist nämlich immer Verlass und es mag interessant sein, dass er immer bereit gewesen ist, diese Rolle in den Zeitungskampagnen für und gegen jeden ,neuen Grass' zu spielen. Nur warum wollte er sich nicht zu "Ein weites Feld" äußern? Nicht mutig genug? Konnte er seinem eigenen Literaturgefühl nicht trauen? Für diesen Band ist diese Lücke wirklich ein Manko. Raddatz' nette Besprechungen anderer Grass-Texte, meistens ziemlich ausgewogen und immer informativ, werden denjenigen gut dienen, die nichts anderes über Grass gelesen haben. Andere brauchen das eitle Heft nicht zu lesen. Reich-Ranicki hat so gut wie alles von Grass und zwar von Anfang an kommentiert. "Die Blechtrommel" musste er zweimal besprechen, weil er seine erste, negative Beurteilung revidieren wollte. Er hat Grass schon kennen gelernt, bevor der erste Roman fertig war und nahm den angehenden und, wie er behauptet, stark angetrunkenen Romanautor gar nicht ernst bei ihrem Treffen im Warschauer Hotel "Bristol". Reich-Ranickis Version dieser Begegnung, die er nicht erst jetzt der Öffentlichkeit preisgibt, gehört zu den Höhepunkten dieser erweiterten Neuauflage seiner Sammlung von Grass-Rezensionen. Wenn man eine nach der anderen liest, muss man feststellen, dass er sich in seiner Kritik treu geblieben ist. Er schätzt die Lyrik von Grass und stand 1967 mit seinem Lob des dritten Lyrik-Bandes "Ausgefragt" in der deutschen Kritik wohl ziemlich allein. Doch weil er sein Lob begründet, so hält dieses, sowie seine sehr ausgewogene und wohlwollende Reaktion auf "Die Plebejer proben den Aufstand" aus dem vorigen Jahr der Kritik stand: Grass' bei weitem gelungenstes Stück sei provokatives politisches Theater im besten Sinne des Wortes aber im Endeffekt keine Weltliteratur. Da hat er recht gehabt. Über Grass als Prosaschriftsteller meint Reich-Ranicki immer wieder (und er versucht seine These immer wieder zu belegen), dass er glänzende Episoden, einzige Kapitel, Novellen durchaus schreiben könne, aber dass ihm der tragende epische Wurf nie wirklich gelinge. Sogar "Die Blechtrommel" (er spricht nur von den ersten zwei Teilen, den dritten hält er für schlecht) sei eine Sammlung von lose aneinander gereihten Episoden, die nur durch Oskar verbunden seien. Den "Hundejahren" fehle der Grundeinfall, im "Butt" hebt er das ,Vatertag'-Kapitel als vollkommene Novelle hervor, "Das Treffen in Telgte" hingegen sei Grass' Meisterwerk. Reich-Ranickis Fehde mit Grass, die im Verriss von "Ein weites Feld" gipfelte und in welcher der Kritiker genauso viele Hiebe einstecken musste als er selbst erteilte, fing mit seiner Rezension der "Rättin" ("ein katastrophales Buch") an, obwohl es ihm schon wehgetan hatte, dass Grass Einzelheiten aus seinem Leidensweg im "Warschauer Ghetto" in "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" einbaute, ohne ihn zu fragen. Grass greift ihn daraufhin in "Zunge zeigen" an und dann noch einmal in seiner sonst so geistreichen Rede "Über das Sekundäre aus primärer Sicht". Für das berühmt-berüchtigte "Spiegel"-Titelbild im August 1995, das Furore über "Ein weites Feld" auslöste, war Reich-Ranicki nicht verantwortlich. Es ist offensichtlich, dass er seinen Angriff bereut. Schade vielleicht, dass er sein Fehlurteil, wie derzeit im Fall der "Blechtrommel", nicht revidieren will. Aber dass der Großkritiker und der Großautor jetzt miteinander versöhnt sind, bekundet schon die Grass-Zeichnung auf dem Buchdeckel. Wer also mehr über das Werk, wie das Leben von Günter Grass erfahren will, der lese "Unser Grass" von Marcel Reich-Ranicki.
|
|
Martin Kämpchen (Hg.): My broken love. Günter Grass in India and Bangladesh. Viking Penguin Books India (P), New Delhi 2001. 300 Seiten, ISBN-10: 0670911143 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch
|
|
Michael Jürgs: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. C. Bertelsmann Verlag, München 2002. 448 Seiten, 24,90 EUR. ISBN-10: 3570005763 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch
|
|
Fritz J. Raddatz: Günter Grass. Unerbittliche Freunde Ein Kritiker. Ein Autor. Arche Verlag, Hamburg 2002. 141 Seiten, 15,00 EUR. ISBN-10: 3716023086 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch
|
|
Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 220 Seiten, 17,90 EUR. ISBN-10: 3421057966 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch
|
|
|